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50 Jahre Pacem in Terris

Impuls zu einer friedensethischen Neuorientierung

Die Enzyklika Pacem in Terris von Papst Johannes XXIII (1963, im Weiteren: PT)1 gilt als erste hochrangige lehramtliche Verlautbarung im Raum der katholischen Kirche, die „das System des ‚gerechten Krieges’ ... systematisch in Frage gestellt“, die „Perspektive eines ‚gerechten Krieges’“ aufgegeben hat (Marx, 2013).2 Das besorgt der Papst fast beiläufig, ohne explizite Bezugnahme auf die fragliche Konzeption, im Wesentlichen indem er zwei Entwicklungen konstatiert, die er offensichtlich gutheißt:

  1. „Mehr und mehr hat sich in unseren Tagen die Überzeugung ... verbreitet, dass die Streitigkeiten, die unter Umständen zwischen den Völkern entstehen, nicht durch Waffengewalt, sondern durch Verträge und Verhandlungen beizulegen sind.“ und
  2. „Darum widerstrebt es in unserem Zeitalter ... der Vernunft, den Krieg noch als das geeignete Mittel zur Wiederherstellung verletzter Rechte zu betrachten.“ (PT, Ziff. 67).

Diese beiden Feststellungen sind allerdings eingebettet in einen universalen Friedenshorizont, in die Vision einer gerechten politischen und wirtschaftlichen Weltordnung, in der Krieg strukturell überwunden ist. Für eine solche Friedenordnung erwartet der Papst, dass die Beziehungen zwischen den sozialen Einheiten von der persönlichen bis zur staatlichen Ebene „von der Norm der Wahrheit, der Gerechtigkeit, der tatkräftigen Solidarität und der Freiheit bestimmt werden“ (PT, Ziff. 46 und passim). Diese Ordnung liegt aus seiner Sicht nicht zuletzt in der Logik der modernen Idee universeller Menschenrechte. Vorbehaltloser als irgendein anderes thematisch verwandtes lehramtliches Dokument der katholischen Kirche schließt PT an die säkulare Menschenrechtskonzeption an. Die Menschenrechte, verstanden als vorpositive, in der personalen Würde des Menschen begründete universelle und unveräußerliche Grundrechte, stellen einerseits die Grundvoraussetzung gelingenden menschlichen Zusammenlebens dar; ihre Verwirklichung ist andererseits angewiesen auf Positivierung durch eine Rechtsordnung. Jede Rechtsordnung aber muss sich ihrerseits an den vg. Normen und Werten bzw. an der Menschenwürde orientieren und messen lassen.

PT war nicht zuletzt eine Reaktion des Papstes auf die gefährliche Verschärfung des Ost-Westkonflikts mit der Kuba-Krise von 1962. In diesem Kontext kam es darauf an, über die Blockgrenzen hinweg einen Raum des Dialogs zu eröffnen – ohne die eigene Wahrheit in Fragen der personaler Würde und der Grundlagen der menschlichen Gesellschaft zu kompromittieren. Nun sind, auf einen ersten Blick, die Konflikte und Auseinandersetzungen der Gegenwart kaum mit der akuten Atomkriegsgefahr von damals zu vergleichen. Kann also die päpstliche Friedensbotschaft heute überhaupt noch politisch-praktische Bedeutung haben?
Auf einen zweiten Blick ist allerdings klar, dass die fundamentale Gefährdung der Menschheit inzwischen zwar weniger manifest ist, aber keineswegs ab-, sondern eher zugenommen hat. Die nahezu ungehindert fortgesetzte Ausbeutung von Mensch und Natur und der damit einhergehende rapide Schwund des Naturkapitals samt Klimawandel zerstören die Lebensgrundlagen ganzer Völker und stellen sie zunehmend für die gesamte Menschheit in Frage. Andererseits führen sie zu einer Verschärfung der globalen Verteilungskonflikte, zu deren Bewältigung – im Sinne einer Durchsetzung der jeweiligen Eigeninteressen – seit dem Ende der Blockkonfrontation zunehmend wieder militärische Machtmittel und Strategien in Betracht gezogen und verwendet werden. Zur Sicherstellung von öffentlicher Akzeptanz für diese „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ haben Regierende es kaum noch nötig, sie als „humanitäres Intervenieren“, als „Friedensschaffen“ o.Ä. zu propagieren. Dabei werden die spezifischen Droh- und Zerstörungspotenziale des Kalten Krieges, die Atomwaffenarsenale, keineswegs ausgenommen; im Gegenteil, fast alle Nuklearstaaten, voran der „Marktführer“ USA, betreiben die Modernisierung ihrer Atomwaffen und Trägersysteme. Mit der rasanten Entwicklung der Drohnen- und Robotertechnologie zeichnen sich die Automatisierung der Kriegsführung und eine neue Spirale des Wettrüstens ab. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung ist eine friedensethische Neubesinnung im Lichte der Friedensenzyklika von Johannes XXIII dringend geboten. Doch ist die nicht schon längst realisiert? 

Mit der friedensethischen Leitidee eines „gerechten Friedens“, wie sie seit einigen Jahrzehnten insbesondere in den Großkirchen (hierzulande) vertreten wird, kann man den Friedenshorizont von PT in der Tat aufgenommen sehen. Der vielfach als ökumenischer friedensethischer Paradigmenwechsel gefeierte Wechsel von der Lehre vom „gerechten Krieg“ zur Lehre vom „gerechten Frieden“ erweist sich allerdings bei genauerem Hinsehen als zutiefst ambivalent und inkonsequent.
Nicht genug damit, dass Militärdienst von kirchlicher Seite (weiterhin) pauschal und kaum genauer besehen als „Dienst am Frieden“, „Dienst am Nächsten“ o.Ä. bewertet wird. Ganz in der Tradition der Lehre vom „gerechten Krieg“ hält man insbesondere im Hinblick auf einen unterstellten allgemeinen „menschlichen Hang zur Gewalt“ gewaltförmige „Mechanismen der Gewaltbändigung und Gewaltvorbeugung“ für vernunft- und sachgemäß (Die deutschen Bischöfe, 2000, Ziff. 56)3 und akzeptiert „in einer nach wie vor friedlosen, unerlös-ten Welt“ grundsätzlich einen „rechtserhaltenden militärischen Gewaltgebrauch“ als „äußerstes Mittel“ – falls auch die übrigen Kriterien des Bellum iustum-Katalogs erfüllt sind (Evangelische Kirche in Deutschland, 2007, Ziff. 60 i.V.m. Ziff. 104 und 112).4 Demnach ist die eigentlich als fragwürdig geltende Lehre vom „gerechten Krieg“ fest in die Lehre vom „gerechten. Frieden“ integriert. Damit ist sie, dank der Einbettung in dieses positiv getönte Begriffsumfeld, u.U. besser als je zuvor verwendbar zur Rechtfertigung von Krieg und Militär.

So fungieren die (Groß-) Kirchen mit der herrschenden Friedensethik gleichsam als Doppelagenten: Einer-seits halten sie die Menschheits-Sehnsucht nach einem „messianischen Frieden“, nach einer tiefgreifenden und nachhaltigen Überwindung der militärischen Gewalt, wach und kultivieren diese Sehnsucht. Andererseits tragen sie – durch die grundsätzliche Hinnahme bzw. Hochschätzung des Systems Militär und durch die Bereitstellung und Pflege einer scheinbar potenten Prüf- und Rechtfertigungsfigur für dessen Gebrauch – wohl nicht unwesentlich, wenn auch in schwer zu überschauender Weise, dazu bei, dass dieser Friedensho-rizont zurückweicht und die Menschheit sich in zunehmend fatalere Gewaltdynamiken verstrickt und damit auf ihre Selbstvernichtung zusteuert.

Eine friedensethischen Neubesinnung, die, von PT inspiriert, die Impulse dieser Enzyklika für die Probleme und Konflikte der Gegenwart fruchtbar machen will, muss diese Impulse vollinhaltlich aufgreifen und auf die aktuellen friedenspolitischen Probleme anwenden. 

Das besagt u.a.:
1. Der „kriegsmetaphysische“ Rückgriff auf das „Böse in der Welt“, die „nicht erlöste Welt“ o.Ä. zur Fundamentierung des Militärgewaltsystems als „letztes“ oder „äußerstes Mittel“ gegen das „Böse“ ist in sich widersprüchlich und steht augenscheinlich ganz und gar nicht in Einklang mit der christlichen Friedensbot-schaft. Ein solcher Rückgriff wirkt zudem als self-fulfilling prophecy, d.h. er führt geradezu zwangsläufig zu einer politischen Praxis, die das Böse der Gewalt in der Regel perpetuiert und verschlimmert, gegen das sie vorgeblich gebraucht, vorbereitet und ausgeübt wird, und macht damit jene „Prophezeiung“ erst wahr oder bestätigt sie. Jede Rechtfertigung des Einsatzes von militärischer Gewalt steht demnach grundsätzlich in Frage, insbesondere jede theologische Rechtfertigung. Wie man das Evangelium ernst zu nehmen vorgeben und Tötungsgewalt ausüben (wollen) oder rechtfertigen kann, erschließt sich nicht; die Berufung auf die „heidnische“ Argumentationsfigur eines „gerechten Krieges“ oder davon abgeleitete Argumentationsfiguren ist hoffnungslos obsolet (vgl. Ökumenischer Rat der Kirchen, 2011, Ziff. 23).5

2. Selbst wenn und wo kirchlicherseits – trotz aller inhärenten Probleme einer solchen Position und trotz des augenscheinlichen Widerspruchs zum Evangelium – an der Möglichkeit eines „Friedensdienstes mit Waffen“ o.Ä. festgehalten wird, muss ausdrücklich, eindeutig und entschieden problematisiert und verworfen werden:
  • dass Regierungen offizieller wie inoffizieller Atomwaffenstaaten, insbesondere von NATO-Staaten unter Führung der USA, weiterhin an der verbrecherischen Nuklearstrategie festhalten (Erstschlag inklusive), jährlich für den Erhalt und die Modernisierung der Atomwaffenarsenale immense Summen ausgeben (rund 100 Milliarden US-Dollar im Jahr 2012) und sich immer noch weigern, diese Relikte des Kalten Krieges wenigstens in ihren Vasallenstaaten abzuräumen;
  • dass Wirtschaftsinteressen – freier Weltmarkt, sichere Handels- und Seewege, Zugang zur Rohstoffen, gesicherte Energieversorgung, nationaler Wohlstand, Kontrolle von Flucht- und Migrationbewegungen, außenpolitische Einflussmöglichkeiten ...) – vor allem von der „westlichen Welt“ immer offener den Mili-tärdoktrinen zugrunde gelegt werden und in entsprechende Planungen und Rüstungsmaßnahmen ein-gehen;
  • dass abermals vor allem „christlich“ geprägte Staaten die Staatenwelt mit ihren Rüstungsprodukten überschwemmen, dadurch zu Konfliktverschärfung und Eskalation in Krisengebieten beitragen und zu-gleich eine gigantische Ressourcenvergeudung betreiben;
  • dass mit der rasanten Entwicklung der Drohnen- und Robotertechnologie und mit deren rücksichtslos-asymmetrischem Einsatz das kriegsvölkerrechtliche Normensystem unterhöhlt wird und ein erneuter gi-gantischer Rüstungswettlauf vom Zaun gebrochen zu werden droht;
  • dass seit der Epochenwende von 1989/90 humanitäre Ziele und Zwecke zunehmend dazu dienen, der desinteressierten bis widerspenstigen „Volksseele“ Militärinterventionen und Auslandseinssätze der Streitkräfte schmackhaft zu machen – bisweilen mit kaum verhohlenem Zynismus oder unter heuchlerischer Berufung auf eine internationale „Schutzverantwortung“ zur Maskierung hegemonialstrategischer Motive.

3. Die angesprochenen, im christlich-kirchlichen Traditionsstrom seit rd. 1700 Jahren mitgeschleppten erra-tischen Blöcke manifester „kultureller Gewalt“ (Galtung, 1990)6 aber müssen endlich dorthin befördert werden, wo sie hin gehören: auf den Müllhaufen der Ideologiegeschichte. Sie sind mit aller Konsequenz durch die politisch-moralisch alternativlose „weltinnenpolitische“ Perspektive gemeinsamer Sicherheit und den ebenso alternativlosen Problemlöseansatz der konstruktiven Bearbeitung konkreter Konflikte zu ersetzen. Diese friedens- und sicherheitspolitische Perspektive und dieser Ansatz der Konfliktbearbeitung können gewiss keinen 100%igen Erfolg garantieren – schon gar nicht, wenn ausschließlich die Interessen einer bestimmten Konfliktpartei der Bestimmung von Erfolg zugrunde gelegt werden. Aber sie werden der gesamtbiblischen Friedensbotschaft zweifelsohne wesentlich besser gerecht als die herkömmliche kollektiv-egozentrische Perspektive i.V.m. dem militärischen Ansatz eigenseitiger Interessendurchsetzung. Sie sind darüber hinaus, wie von Konflikt- und Friedensforschung längst nachgewiesen, wesentlich „vernünftiger“ – im Sinne nachhaltigen Erfolgs gemäß parteiübergreifenden Erfolgskriterien. Entsprechendes gilt von einer strikt zivilen Wahrnehmung wechselseitiger weltweiter (Schutz-) Verantwortung.

Papst Johannes XXIII bedient sich in PT nur vergleichsweise sparsam einer spezifisch religiösen oder theologischen Sprache oder bietet gelegentlich eine transzendenz-bezogenen Fundierung an. Diese Zurückhaltung dürfte vor allem dem Bemühen geschuldet sein, Gehör über konfessionelle und Weltanschauungsgrenzen hinaus, in einer weitgehend säkularisierten Öffentlichkeit, zu finden. So kann sich auch die avisierte friedensethische Neuorientierung „allen Menschen guten Willens“ erschließen. Wer sich aber auch nur „experimentell“ auf die biblische Friedensbotschaft und insbesondere auf die jesuanische Gewaltfreiheit ein-lässt, wird in der „Vernünftigkeit“ dieser Botschaft und dieses Ansatzes eine Bestärkung seines oder ihres „Glaubensexperiments“ finden können. Das tut jedoch ihrem Anspruch auf ethische bzw. moralische Ver-bindlichkeit keinen Abbruch, bedeutet insbesondere nicht, dass sie weniger gewissensrelevant wäre als die mit staatlicher Zwangsmacht durchgesetzten staatsbürgerlichen Unterordnungs- und Beteiligungspflichten, die aus der herrschenden militärfixierten „Friedenspolitik“ resultieren. Ihr gegenüber sind Möglichkeiten und Bedingungen Zivilen Ungehorsams und Zivilen Widerstands zu klären. Und die hierzulande institutionalisierte kirchlich-militärische Kooperation in Form der Militärseelsorge, der zugeschrieben wird, bspw. bei Aus-landseinsätzen der Bundeswehr „für Ruhe in der Seele [zu] sorgen“ (Evangelisches Kirchenamt für die Bundeswehr, 2003),7 wird einer tiefgreifenden kritischen Prüfung im Lichte der geforderten friedensethischen Neuorientierung zu unterziehen sein.

Für die Kommission Friedenspolitik
Pforzheim, 04.10.2013
Christof Grosse, Sprecher

Anmerkungen
  1. Joannes PP. XXIII (1963): Enzyklika Pacem in Terris. Rom, 11.04.1963. 
  2. Marx, R. Kardinal (2013): Kirche als Friedensakteur. Teil des Problems oder Teil der Lösung? Statement bei der Tagung von Justitia et Pax zu 50 Jahre Pacem in Terris. Berlin, 10.04.2013. 
  3. Die deutschen Bischöfe (2000): Gerechter Friede. Bonn: Sekretariat der deutschen Bischofskonferenz. 
  4. Evangelische Kirche in Deutschland/EKD (2007): Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. 
  5. Ökumenischer Rat der Kirchen (ÖRK) (2011): Ein Ökumenischer Aufruf zum Gerechten Frieden. – Begleitdokument. Entwurf: 14. April 2011. 
  6. Galtung, J. (1990): Cultural violence. Journal of Peace Research, 27, 291-305.
  7. Evangelisches Kirchenamt für die Bundeswehr (Hrsg.) (2003): Für Ruhe in der Seele sorgen. Evangelische Militärpfarrer im Auslandseinsatz der Bundeswehr. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt.