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Lehren ziehen aus dem Afghanistan-Desaster

04. Apr 2022

pax christi fordert eine unabhängige Evaluation des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr zur grundlegenden Aufarbeitung und Neuorientierung

pax christi-Bundesvorstand

Spätestens nach dem desaströsen Abzug aus Afghanistan im Sommer 2021, sind Parlament und Zivilgesellschaft herausgefordert, den Krieg in Afghanistan auszuwerten und daraus Lehren für laufende und künftige Politik und für Mandate der Bundeswehr zu ziehen.

Der Krieg der NATO in Afghanistan hat hunderttausende Menschen das Leben gekostet, Millionen in die Flucht getrieben und hinterlässt ein wirtschaftlich und gesellschaftlich am Boden liegendes Land, in dem nahezu die Hälfte der Bevölkerung auf humanitäre Hilfe angewiesen ist. Laut Prognose des IWF wird die afghanische Wirtschaft 2021 bis 2022 um bis zu 30 % schrumpfen. Mit dem desaströsen Abzug der westlichen Truppen aus Afghanistan ist gleichzeitig die Rache- und Vergeltungslogik, die den „Krieg gegen den Terror“ der USA und ihrer Bündnispartner von Beginn an kennzeichnete, grundlegend gescheitert. 

Mit den Mitteln für die finanziellen Kosten des Afghanistan-Krieges (seitens Deutschlands geschätzte 18 Mrd. Euro, seitens der USA Joseph Stiglitz zufolge zusammen mit dem Irak-Krieg bis zu drei Billionen Dollar) hätten notwendige Infrastrukturen und auch zivilgesellschaftliche Strukturen zum Schutz der Bevölkerung gegen Terrormilizen dort wie in vielen Entwicklungsländern aufgebaut werden können.

Die Entwicklung in Afghanistan war seit Jahren immer weniger von zivilen Aufbaumaßnahmen, der Umsetzung von Frauenrechten und einer Friedensmission bestimmt. Stattdessen entwickelte sich eine wachsende Kriegsdynamik und damit wurde die Verschärfung der Notsituation der Menschen in Kauf genommen. 

Ende mit Schrecken
Mit großer Sorge beobachtet pax christi, dass Rache- und Vergeltungslogik noch immer die US-amerikanische Außenpolitik beeinflussen, wie es sich im Drohnen-Vergeltungsschlag der Biden-Regierung auf den IS-Anschlag im August 2021 in Kabul während des Truppenabzugs zeigt. 

Die Kriegsfolgen für die Menschen in Afghanistan blieben hierzulande medial meist bilderlos, weshalb die deutsche Gesellschaft seit Jahren nahezu widerspruchslos eine beschönigende Darstellung des Krieges hinnimmt und die Grausamkeit des Afghanistan-Krieges verdrängt. 

pax christi fordert die Bundesregierung dazu auf, nicht nur die Umstände des Abzuges der westlichen Truppen aus Afghanistan in einem Untersuchungsausschuss zu untersuchen, sondern zugleich die Hintergründe des Scheiterns des Afghanistan-Einsatzes einer tiefergehenden Analyse zu unterziehen. 

Die Fragestellung muss sein, auf welcher Faktengrundlage ein terroristisches Verbrechen, also eine Kern-Aufgabe für Polizei und Justiz, umgehend zur Grundlage eines zwischenstaatlichen Krieges bis hin zum NATO-Bündnisfall und einem zeitlich und räumlich entgrenzten „Krieg gegen den Terror“ werden konnte. Weiterhin muss aufgearbeitet und diskutiert werden, welche Auswirkungen dieser Einsatz auf die wirtschaftliche und soziale Situation Afghanistans hatte. Die aktuelle Lage der Bevölkerung sowie der Geflüchteten und die Frage nach notwendigen effektiveren Alternativen zu militärischen Interventionen ist in den Blick zu nehmen.  

Hungersnot nach dem Krieg
pax christi fordert, dass eine Aufarbeitung nicht allein aus Sicht der Militärs geschehen darf, sondern dass die Fachöffentlichkeit hinzuziehen ist, die sich seit Jahrzehnten mit ziviler Konfliktbearbeitung und Krisenprävention beschäftigt. Das kann nur eine unabhängige Evaluation gewährleisten, die nicht von den Parteien bestimmt wird, die zwanzig Jahre lang die Entscheidungen getroffen haben und das Desaster zu verantworten haben, dem sich Afghanistan jetzt gegenübersieht. 

Eine unabhängige Evaluation – wie die USA sie inzwischen eingesetzt haben – muss auch in Deutschland besonders in den Blick nehmen, welche Unterstützung bei der Bewältigung der aktuellen humanitären, sozialen und wirtschaftlichen Folgen des Krieges geleistet werden kann. 

Das Sicherheitsbedürfnis, welches alle Völker haben, kann aus pax christi-Sicht nicht durch Aufrüstung und weitere Militarisierung befriedigt werden, sondern muss mit Abrüstungsschritten, Kooperation und Dialog mit allen Beteiligten auf Augenhöhe angegangen werden.  

Scheitern war erkennbar
Die katholische Friedensbewegung pax christi hat die Kriegsbeteiligung der Bundeswehr seit deren Planung und während der gesamten Dauer kritisch begleitet. Diese Analysen aus zwanzig Jahren sind für pax christi auch heute handlungsleitend, deshalb werden wichtige Elemente hier zusammengefasst:

„Aufhören jetzt – zum sofortigen Stopp der Bombardierung Afghanistans“ überschrieb der pax christi-Vorstand im Oktober 2001 seine Erklärung und empfahl, den Militäreinsatz zu beenden, den Geflüchteten zu helfen, die Entwicklung eines Strafrechts der Vereinten Nationen (Internationaler Strafgerichtshof) zu forcieren und eine internationale Konferenz zur koordinierten Eindämmung des Terrorismus einzuberufen. 

Nach dem ersten Kriegsjahr und einer Eskalation der Gewalt mit tausenden Todesopfern in der afghanischen Zivilbevölkerung titelte pax christi „Der Krieg zerreißt die Netzwerke des Terrors nicht“. Fokussiert wurde auf die Notwendigkeit, den internationalen Dialog mit den arabischen, vom Islam geprägten Staaten zu verstärken und auch auf die Verantwortung der Religionen verwiesen, dahin gehend verstärkt aktiv zu werden. 
Seit 2005 forderte pax christi explizit eine „Exit-Strategie“ und zeigte die Unmöglichkeit auf, die Aufbau- und Kampfmandate (ISAF und Enduring Freedom) sowie die damit einhergehenden Verwicklungen der Bundeswehr in Kriegshandlungen voneinander zu trennen. 

Im selben Jahr forderte der damalige pax christi-Präsident, Bischof Algermissen, den „Mut zur Wahrheit“ und konstatierte: „Der Afghanistaneinsatz ist gescheitert“. Er setzte sich mit seiner Analyse und seinen Hinweisen auf eine notwendige Umsteuerung dieses Bundeswehrmandates unbeirrt der Kritik aus den Reihen der Regierungsparteien aus. Er zeigte die Unumgänglichkeit des Verhandelns mit den Taliban auf. Bereits im Jahr 2011 warnte er, dass es auch in Situationen extremster Menschenrechtsverletzungen keine „Gewöhnung an das Mittel der Gewaltanwendung geben darf“ (GF 161) und kritisierte die Entwicklung der Bundeswehr von der Verteidigungsarmee hin zur Einsatzarmee.