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Die Beziehungen zu Russland neu gestalten

21. Jun 2021

Erklärung des pax christi-Bundesvorstandes anlässlich des 80. Jahrestages des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941

Am 22. Juni jährt sich zum 80. Mal der Jahrestag des Überfalls der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion. Für die deutsche Sektion von pax christi ist dies Anlass und Grund, sich sowohl der geschichtlichen Ereignisse zu erinnern als auch nach ihrer bleibenden, die deutsch-russischen Beziehungen mitprägenden Bedeutung und den Perspektiven für die Gegenwart zu fragen.

Der Opfer des Vernichtungskrieges gedenken 
Der Überfall war die Fortsetzung eines Angriffs- und Vernichtungskriegs, der 22 Monate zuvor mit dem Überfall auf Polen seinen Anfang genommen hatte. In Osteuropa wurde der Krieg bewusst grausamer geführt als an den westlichen Fronten, das Ziel war eine rassistisch begründete Kolonialisierung Osteuropas, um den Herrschaftsraum des Deutschen Reiches auszudehnen.

Bei diesem militärischen Vormarsch mit den Hauptzielen Leningrad, Moskau, Stalingrad, der Ukraine und dem Kaukasus überschritt die deutsche Wehrmacht bewusst völkerrechtliche Grenzen und beging ungezählte Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung und an Kriegsgefangenen der Roten Armee. Nahezu eine Million sowjetischer Kriegsgefangener kam durch Hunger und Erfrieren bereits zu Beginn des Feldzuges zu Tode, etwa 600 Dörfer vor allem in Belarus wurden niedergebrannt und ihre Bewohner*innen ermordet. Die Belagerung Leningrads wurde zwei Jahre mit dem Ziel vorangetrieben, die Bewohner dieser Stadt verhungern zu lassen.

Den vorrückenden deutschen Truppen folgten Einsatzgruppen und Polizeieinheiten mit dem Ziel, vor allem die jüdische Bevölkerung in den besetzten Gebieten zu ermorden. Etwa eine Million jüdischer Bewohner*innen kam dort bereits in den ersten Kriegsmonaten zu Tode. Durch diesen Krieg verloren schließlich 26 Millionen sowjetische Bürger*innen ihr Leben. 

Der Umgang mit Schuld und Erinnerung als Grundlage vertrauensvoller Beziehungen 
Die Erinnerung an die Opfer dieses Krieges ist nicht eine abstrakte Verpflichtung, sie setzt vielmehr die bewusste Anerkennung dieses fremden Leidens voraus. Die Annäherung an diese Einsicht war in beiden deutsche Staaten unterschiedlich und auch die Kirchen waren nicht von Anfang an auf dem Weg zur Versöhnung. Es bedurfte langer Wege der Verständigung, denn oft war die Versuchung, eigenes Leid durch Krieg und Kriegsfolgen mit dem der Überfallenen aufzurechnen, größer als die Bereitschaft zur Anerkennung eigener Schuld. Das Eingeständnis der Schuld und die Übernahme der Verantwortung für die Verbrechen schien auch nach der deutschen Einheit, die ohne die Zustimmung der damaligen Sowjetunion nicht möglich gewesen wäre, Teil eines Konsenses in der deutschen Bevölkerung zu sein. Inzwischen mehren sich aber in der deutschen Öffentlichkeit die Stimmen, die diesen selbstkritischen Ansatz in Frage stellen und Positionen einer falschen Identitätspolitik in die Debatte bringen. Das schadet aber der Glaubwürdigkeit aller Bemühungen um ehrliche Beziehungen.

Die Beziehungen zu Russland sind durch die innere Situation der Russischen Föderation und dem eng mit ihr verbundenen Belarus von massiven Konflikten und Repressionen gegen demokratische und zivilgesellschaftliche Akteure gekennzeichnet. Die mit militärischen Mitteln durchgesetzte Annexion der Krim und die Destabilisierung des Donbas vermindern aus westlicher Sicht das Vertrauen in die Führung der Russischen Föderation außerordentlich. Aus russischer Perspektive fördern Raketenabwehrschirme der USA in Polen, Rumänien und Bulgarien, die Stationierung von Nato-Truppen in der Ukraine und das vor wenigen Tagen zu Ende gegangene NATO-Manöver „Defender 21“ nahe der russischen Grenze das Misstrauen gegenüber dem Westen. EU und NATO sind angesichts der historischen Erfahrung, die in der russischen Bevölkerung nicht vergessen ist, aufgefordert, mit der notwendigen Sensibilität vorzugehen und nicht zu schnell voranzutreiben, was vor allem in ihrem eigenen Interesse liegen könnte. Dies betrifft insbesondere die Frage nach der NATO-Mitgliedschaft der Ukraine. Die Bedürfnisse der Staaten, die für Russland und Deutschland Nachbarn sind, müssen beachtet werden.

Gemeinsame Sicherheit glaubwürdig gestalten
Die enorme Herausforderung für das politische und zivilgesellschaftliche Handeln besteht in einem schwierigen Spagat. Einerseits ist die Sicherheit der östlichen NATO-Staaten sowie der Ukraine sicherzustellen, ohne Russland ins Abseits zu drängen. Andererseits dürfen die Beziehungen der Staaten des europäischen Westens zu Russland die Länder Mittel-Osteuropas nicht zu Verlierern der internationalen Beziehungen machen. Es ist nach Bereichen zu suchen, die von gemeinsamem Interesse sind und einen Wandel ermöglichen können. Sicherheit ist nicht teilbar, es gibt sie immer nur gemeinsam und es gibt keine Sicherheit nach außen ohne demokratische Entwicklung im Inneren. Das allerdings erfordert auch Vertrauen und Abwesenheit von Bedrohungen, insbesondere durch Verzicht auf weitere Aufrüstungen im konventionellen, nuklearen und digitalen Bereich. Die nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes nach 1990 in Europa zunächst verringerten Militärpotentiale dürfen nicht durch Modernisierungen wieder aufgehoben werden. Neue Rüstungskontrollvereinbarungen, die die dem aktuellen Stand der Waffentechnologie gerecht werden, sind in Gang zu setzen. Die Erfahrungen der Entspannungspolitik der 1970er - 1980er Jahre in Europa sollten genutzt und Schlüsse gezogen werden, auch wenn sie als historischer Vorgang nicht einfach wiederholbar sind. Das völkerrechtliche friedenssichernde Prinzip (UN-Charta) der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten fremder Staaten setzt die gemeinsame Anerkennung der Geltung universaler Menschenrechte voraus und erfordert das entsprechende Handeln staatlicher Organe, um ihren Bürger*innen Freiheitsrechte und Sicherheit zu gewährleisten.

Die Voraussetzungen für einen Dialog mit Russland sind zurzeit nicht günstig. Dennoch muss es das Ziel sein, diesen Dialog zu suchen und zu führen. In unserer globalen Welt kommt es darauf an Partner zu bleiben und nicht Feinde zu werden. pax christi nimmt daher dieses Datum zum Anlass, der Opfer dieses Verbrechens an den Menschen der damaligen Sowjetunion sowie aller Opfer des durch Deutschland verursachten Kriegs zu gedenken. Angesichts der konfliktbelasteten Gegenwart bleiben Politik wie Zivilgesellschaft in Europa, insbesondere in Deutschland, zu einem neuen friedenspolitischen Handeln herausgefordert.

Aufrichtiges Interesse aneinander, zivilgesellschaftlicher Austausch, gegenseitige Besuche und Zugang zu differenzierten Informationen können dazu beitragen, dass sich Menschen auf Augenhöhe begegnen und in Dialog treten können. Dieser Dialog darf Streitthemen nicht aussparen.