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Aachener Vertrag: Auf Friedenslogik ausrichten!

02. Okt 2019

pax christi Frankreich und pax christi Deutschland mit den Präsidenten Marc Stenger, Bischof von Troyes und Heinz Josef Algermissen, Bischof em. von Fulda kommentieren den Aachener Vertrag vom 22. Januar 2019

1. Sechsundfünfzig Jahre nach der Unterzeichnung ist der Elysée-Vertrag zwischen Frankreich und Deutschland (1963) durch den Vertrag von Aachen vom 22. Januar 2019 fortgeschrieben worden. Wir sollten nicht vergessen, dass die Ursprünge der pax christi-Bewegung weitgehend von dem tiefen Wunsch der Menschen nach Versöhnung zwischen den Völkern inspiriert war; insbesondere nach Versöhnung zwischen den Franzosen und den Deutschen nach den Verbrechen und Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs. Deshalb begrüßen wir die Inhalte des Vertrages sehr, bei denen es um Kultur, Bildung, Forschung und Mobilität (Kapitel 3), die Verpflichtungen zur regionaler und grenzüberschreitender Zusammenarbeit (Kapitel 4), sowie um nachhaltige Entwicklung, Klima, Umwelt und wirtschaftliche Angelegenheiten (Kapitel 5) geht. Diese Kapitel bilden eine solide Grundlage für Fortschritte für die gemeinsame Zukunft unser beider Länder. Deshalb befürwortet pax christi die Ratifizierung des Vertrages. Eine Verweigerung der Ratifizierung würde das Vertrauen zwischen Frankreich und Deutschland und damit das europäische Projekt selbst schwer beeinträchtigen. Der Vertrag setzt in erster Linie einen Rahmen für die Zusammenarbeit, die in die Praxis umgesetzt werden muss. Diese Praxis kann vom neuen französisch-deutschen Parlament ausgehen, das zusammen mit dem Aachener Vertrag eingerichtet wurde.

2. Die geplante Zusammenarbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik, die im Elysée-Vertrag noch gesondert aufgeführt waren, werden im Aachener Vertrag in einem gemeinsamen Kapitel über Frieden, Sicherheit und Entwicklung behandelt (Kapitel 2). Zur  Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich erwähnt der Vertrag ausdrücklich die Stärkung der Handlungsfähigkeit auf europäischer Ebene, die Verpflichtung zur gegenseitigen Unterstützung im Falle eines bewaffneten Angriffs, die Einrichtung gemeinsamer Verteidigungsprogramme - soweit möglich mit anderen europäischen Partnern, die Zusammenarbeit in der Rüstungsindustrie und einen gemeinsamen Ansatz für Waffenexporte bei gemeinsamen Projekten. 

Unsere pax christi-Position
3. In der geschilderten Weise wird der militärischen Dimension der Friedens-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik übertriebene Aufmerksamkeit geschenkt. Frankreich und Deutschland wollen im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der Europäischen Union eine Avantgarde der militärischen Zusammenarbeit bilden. Wir, die französische und die deutsche pax christi-Bewegung, stellen fest, dass die, in Übereinstimmung mit den Protokollen von 1988 vorgenommene, Einrichtung eines deutsch-französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrates als politisches Organ (Kapitel 4) einen weiteren Schritt hin zu militärischer Kernkapazität auf europäischer Ebene bedeutet. 

Eine solche militärische Leistungsfähigkeit stellt eine grundlegende Herausforderung für die Europäische Union selbst dar. Aus pax christi-Sicht sollte sich die EU grundsätzlich zu einer Politik der zivilen Krisenprävention, der Konfliktbewältigung und der Friedenskonsolidierung nach Konflikten in Europa und weltweit bekennen.  

4. Kapitel 7 befasst sich mit einer starken Partnerschaft zwischen Europa und Afrika. Wir begrüßen diesen Plan als Instrument zur Stärkung zivilgesellschaftlicher Initiativen zur Friedenskonsolidierung und Konfliktlösung. Angesichts der negativen Folgen des Einsatzes militärischer Mittel für die Konfliktbearbeitung (menschliche Opfer und Verletzte, Verrohung von Soldaten und Bevölkerung, physische Zerstörung, Behinderung der Entwicklung demokratischer Gesellschaften, Umweltkatastrophen...) muss dem Rückgriff auf militärische Maßnahmen jedoch mit "gesundem Misstrauen" begegnet werden, auch wenn sie unter der Ägide der UNO durchgeführt werden. Für Europa sollte jede Art von militärischer Intervention in Afrika gegen die enormen Verwerfungen abgewogen werden, die sie in bereits fragilen und kaum nachhaltigen Gesellschaften verursachen würde. Militärische Interventionen würden den moralischen Imperativ hin zur Entwicklung von Mitteln und Wegen für die gewaltfreie Konflikttransformation massiv untergraben. Anstatt nach Rechtfertigungen in der Theorie des "Gerechten Kriegs" zu suchen, könnte "Gerechte Polizeiarbeit", wenn sie ernsthaft umgesetzt wird, eine sowohl praktikable als auch zu rechtfertigende Alternative bieten.  

5. Darüber hinaus schweigt der Aachener Vertrag, wie alle bisherigen deutsch-französischen und europäischen Verträge, über das französische Atomwaffenarsenal und lässt die Rolle der französischen "atomaren Abschreckung" für die europäische Sicherheit unerwähnt. Auch die Präsenz amerikanischer Atomwaffen und ihre geplante "Modernisierung" auf europäischem Boden wird nicht explizit benannt. Von nuklearer Abrüstung, die ein vordringlicher Schwerpunkt der deutsch-französischen Zusammenarbeit sein sollte, ist keine Rede. 

Die Idee, den Frieden durch nukleare Abschreckung zu sichern, kann nicht mehr länger als ethisch vertretbar angesehen werden. Wir plädieren entschieden für die schrittweise und weltweite Abschaffung von Kernwaffen unter wirksamer internationaler Aufsicht, mit umfassender Berücksichtigung des Vertrags über das Verbot von Kernwaffen (TPNW), der am 7. Juli 2017 von der zu diesem Zweck eingerichteten UN-Konferenz verabschiedet wurde. Wir bringen auch unsere tiefe Besorgnis über die derzeitige Erosion der Rüstungskontroll- und Abrüstungsregelungen (z.B. das Ende des INF-Vertrags) zum Ausdruck und bedauern das derzeitige nukleare und konventionelle Wettrüsten sehr. Die Europäische Union sollte den Mut haben, es zu beenden statt sich daran zu beteiligen.

6. Kapitel 2 des Aachener Vertrags entwickelt eine Logik der militärischen Sicherheit. pax christi sieht darin den Keim einer möglichen zukünftigen "Militarisierung" unserer beiden Länder, der Europäischen Union und der Beziehungen zu den Nachbarstaaten im Süden und Osten.  pax christi bevorzugt es, die Entwicklung der Europäischen Union zu einer politischen Einheit, deren zentrale Säule die deutsch-französische Zusammenarbeit wäre, als  demokratische Debatte unter Beteiligung aller Mitgliedstaaten zu gestalten, statt sie aus einer Abfolge bilateraler Vereinbarungen hervorgehen zu sehen, die eine Reihe vollendeter Tatsachen für die anderen Staaten schaffen. In diesem Zusammenhang sollte auch der Beitrag, den das Vereinigte Königreich zur "gemeinsamen Verteidigung" nach einem Brexit leisten könnte, demokratisch diskutiert werden. Ebenso sollte die Rolle der NATO und der US-amerikanischen Hegemonie mit ihren derzeit gefährlichen Untertönen angesprochen werden. Europa darf aufgrund seiner fehlenden unabhängigen Verteidigungsfähigkeit nicht in zweifelhafte Militäraktionen oder in einen neuen Rüstungswettlauf verwickelt werden. Und nicht zuletzt muss diese Debatte sich der bereits erwähnten Notwendigkeit stellen, den Schwerpunkt auf eine zivile Neuausrichtung der angestrebten Zusammenarbeit für den Frieden zu legen. Nur so kann die EU die Erwartungen erfüllen, die aus der Verleihung des Friedensnobelpreises 2012 an sie erwachsen. 

7. Die Bestimmungen des Vertrags über die künftige Zusammenarbeit beim Rüstungsexport geben ebenfalls Anlass zur Besorgnis. Sie sind geeignet, die (gegenwärtige) deutsche Politik auszuhebeln, die bekanntlich in Bezug auf Risiken, die solche Exporte für die Wahrung des Friedens und die Achtung der Menschenrechte darstellen, strenger ist als die französische. Wir sind überzeugt, dass der Waffenexport objektiv zur Verarmung der Abnehmerstaaten, zur Destabilisierung der Nachbarregionen Europas, zur Zunahme von Spannungen und letztlich zu den massiven Migrationsbewegungen beiträgt, die wir heute erleben. Der internationale Vertrag über den Waffenhandel (ATT) hat offenbar nicht alle von ihm erwarteten Ergebnisse gebracht. Eine gemeinsame deutsch-französische und europäische "Gangart" gegenüber den Vereinigten Staaten und der Russischen Föderation ist absolut notwendig, wenn dieser Handel begrenzt werden soll. 

Fazit
8. pax christi bedauert, dass der Vertrag zwar von "Friedenssicherung" spricht, die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik dann aber ausschließlich aus der Perspektive verbesserter militärischer Planungen und Maßnahmen betrachtet. Der Vertrag sagt bedauerlicherweise nichts zu Konfliktprävention, aktiver Friedensförderung, humanitärer Hilfe und zum Wiederaufbau von Ländern und Gesellschaften, die durch Krieg und nicht erklärte Konflikte verwüstet wurden. Gleichwohl hindert er nicht daran, die deutsch-französische Zusammenarbeit auf diese Bereiche auszudehnen und sie zu einer ihrer Prioritäten zu machen. Die Praxis kann also die Zusammenarbeit wieder auf Projekte ausrichten, die auf die Sicherung und den Aufbau eines gerechten Friedens abzielen. 

9. pax christi Frankreich und pax christi Deutschland wünschen sich, dass sich unsere beiden Länder und alle Mitgliedstaaten der EU im Geist gemeinsamer Sicherheit und Zusammenarbeit, sowohl untereinander als auch in den Beziehungen zu Nachbarstaaten und -kontinenten, kontinuierlich weiterentwickeln. Langfristig kann und sollte die kollektive Sicherheit die kollektive Verteidigung ersetzen. Wir erinnern daran, dass die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die mit dem Ziel, den Grundstein für eine europäische Sicherheitsarchitektur nach dem Ende des Kalten Krieges zu legen, aus dem Prozess hin zur Helsinki-Konferenz 1975 hervorging, nach wie vor als gutes Beispiel für diesen Ansatz in Sicherheits- und Friedensfragen dienen kann.

10. Am Vorabend der Ratifizierung des Aachener Vertrags durch die Parlamente der beiden Länder ersuchen wir die Parlamentarier, die Auswirkungen eines solchen Vertrags im Lichte unserer Bemerkungen zu prüfen, und ersuchen die französische und die deutsche Regierung, ihre derzeitige und künftige, verstärkte Zusammenarbeit neu auszurichten, um diese Ziele zu fördern.

+ Heinz Josef Algermissen +Marc Stenger
Präsident pax christi Deutschland Präsident pax christi Frankreich