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Militär gegen soziale Proteste in Kolumbien

21. Mai 2021

Ein großer Schritt weg vom Frieden

Seit dem Generalstreik am 28. April halten in Kolumbien soziale Proteste unterschiedlicher gesellschaftlicher Sektoren an. Dem Streikaufruf der Gewerkschaften “Für Leben, Frieden, Demokratie und gegen das Reformpaket der Regierung Duque” folgten Menschen in den Städten, indigene und bäuerliche Gemeinschaften, Studierende und viele Jugendliche, deren Zukunftsperspektiven sich durch die Corona Pandemie weiter verschlechtert haben. Proteste fanden in mehr als der Hälfte der Landkreise Kolumbiens statt. Die Proteste waren und sind weitestgehend friedlich. Es gab auch Akte von Gewalt, die teils von den Protesten ausgingen, teils unabhängig von diesen erfolgten und die die Deutsche Menschenrechtskoordination Kolumbien verurteilt.

Die massiven sozialen Proteste richteten sich zunächst gegen eine geplante Steuerreform, die durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer u.a. auf Grundnahrungsmittel und Treibstoff die armen Bevölkerungsgruppen und die Mittelschicht besonders hart getroffen hätte. Neben dieser – mittlerweile zurückgezogenen – Steuerreform richten sich die Proteste gegen angekündigte Reformen im Bildungs- und Gesundheitssektor, die der breiten Mehrheit weitere Lasten auferlegen würden. Kolumbien ist von extremer Ungleichheit geprägt. Obwohl es ein Land mit oberem mittleren Einkommen ist, leben 42 Prozent der Bevölkerung in Armut, davon fast ein Drittel in extremer Armut.[1]
Der Umgang mit der Corona Pandemie steht ebenso in der Kritik wie die schleppende und ungenügende Umsetzung des Friedensvertrags von 2016. Dazu kommt die stete Zunahme von Morden und Massakern an Menschenrechtsverteidiger*innen (MRV) und sozialen Führungspersönlichkeiten.

Unterschiedliche Gruppierungen, die die Proteste tragen, sind in einem „Streikkomitee“ organisiert, welches u.a. Gewerkschaften und Menschenrechtsorganisationen einschließt, jedoch nicht alle Teile der Protestbewegung umfasst. Insbesondere die Jugendlichen sehen sich durch das Komitee nicht repräsentiert. Dem Streikkomitee hat Präsident Duque Mitte Mai ein Gesprächsangebot gemacht.

Die Regierung begegnete den Protesten von Anfang an mit einer massiven Polizeipräsenz und dem übermäßigen Einsatz von Gewalt, insbesondere durch Spezialeinheiten zur Bekämpfung von Ausschreitungen (ESMAD). Ab dem 01. Mai ordnete Präsident Duque außerdem den Einsatz des Militärs in Städten wie z.B. Cali an. Vom 28.04. bis zum 15.05. wurden dokumentiert: bis zu 379 Verschwundene, 48 getötete Demonstrant*innen[2], ein getöteter Polizist, 87 Fälle von geschlechterbasierter (insbesondere sexualisierter) Gewalt durch Sicherheitskräfte, Verschleppung und 1.460 vielfach willkürliche Verhaftungen.[3]
Sicherheitskräfte setzten so genannte nicht-letale Waffen wie den Granatwerfer “Venom”[4] ein, der mit Blendgranaten bestückt werden kann, richteten Gummigeschosse auf Gesichter und feuerten Tränengasgranaten aus nächster Nähe auf Protestierende.
In der Nacht des 04. Mai schossen in Cali im Viertel Siloé Sicherheitskräfte mit scharfer Munition auf Protestierende. Außerdem wird von Drohungen, Folter und erniedrigenden Behandlungen dort und an anderen Orten berichtet.[5] [6]
Am 09. Mai schossen bewaffnete Zivilisten auf eine Gruppe Indigener der Organisation CRIC, die die Proteste in Cali unterstützen wollte. Anwesende Sicherheitskräfte unternahmen zunächst keine Anstrengungen, die Angreifer abzuhalten, sie festzunehmen oder die Angehörigen des CRIC zu schützen. Verhaftete wurden teils an nicht behördliche Orte, z.B. ein Sportstadion, gebracht.

Die Direktorin der Sucheinheit für verschwundene Personen (UBPD) beklagte, dass die Polizei Informationen über den Verbleib Festgenommener teilweise nicht an suchende Angehörige und Anwält*innen weitergibt. Reporter ohne Grenzen wies am 12.05. auf mindestens 140 Übergriffe gegen Journalist*innen seit Beginn der Proteste hin, ein Großteil davon gewalttätige Attacken durch Sicherheitskräfte.[7]

Bereits im November/Dezember 2019 und September 2020 hatte es einen Generalstreik und Proteste gegen Polizeigewalt gegeben. Auch sie waren mit exzessiver Gewalt der Sicherheitskräfte beantwortet worden, in deren Folge es Tote und Verletzte gab. Seit Jahren wird außerdem kritisiert, dass die kolumbianische Polizei dem Verteidigungsministerium unterstellt ist. Fälle von Übergriffen durch die Polizei werden – sofern sie zur Anklage gebracht werden – häufig vor der Militärgerichtsbarkeit verhandelt und enden i.d.R. mit Straflosigkeit. Vor dem UN-Menschenrechtsrat versichern kolumbianische Regierungen seit Jahren, dass Fälle von mutmaßlichen Menschenrechtsverletzungen nie der Militärgerichtsbarkeit übertragen würden.

Nach den Protesten Ende 2020 und aufgrund von Klagen hatte der Oberste Gerichtshof Kolumbiens festgestellt, dass exzessive Gewalt „systematisch und willkürlich“ eingesetzt wurde und die Exekutive aufgefordert, Maßnahmen zu ergreifen, um friedlichen Protest zu garantieren und den unverhältnismäßigen Einsatz von Gewalt einzudämmen.[8] Gleichzeitig sind Kontrollbehörden wie die Ombudsstelle (Defensoría) und die Disziplinarstaatsanwaltschaft (Procuraduría) sowie die Staatsanwaltschaft (Fiscalía) geschwächt.[9] Kritisiert wird, dass Präsident Duque die Leitung dieser wichtigen Behörden mit ihm nahe stehenden Personen besetzt hat, die u.a. in Interessenkonflikte hinsichtlich der Amtsausübung verstrickt sind. Der Leiter der Defensoría hat die Mitarbeiter*innen angewiesen, mit den Sicherheitskräften zu kooperieren – ein Widerspruch zu deren Kontrollfunktion.[10]

Dem in der kolumbianischen Verfassung und internationalen Abkommen garantierten Recht auf friedliche Versammlung und Meinungsfreiheit begegneten die Sicherheitskräfte mit militärischer Konfrontation. Präsident Duque hat seinerseits über viele Tage hinweg fast ausschließlich auf Vandalismus und Gewalt von Protestierenden hingewiesen sowie auf durch Straßenblockaden entstehende Versorgungslücken. Das Vorgehen der Sicherheitskräfte verteidigte er auch noch, als es eine erdrückende Zahl von Berichten über massive Übergriffe gab. Die Vize-Außenministerin kritisierte das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte für dessen Äußerungen zu den Vorfällen scharf und sprach von einem massiven Vertrauensverlust gegenüber dem OACNUDH Büro.[11] Einflussreiche Politiker der Regierungspartei forderten die Verhängung des Ausnahmezustands.

Ernsthafte Gespräche über inhaltliche Lösungen bleiben schwierig, solange exzessive Gewalt von Sicherheitskräften gegen friedlich Demonstrierende anhält. Der nachhaltige Verlust an Vertrauen ist enorm, die existierende Polarisierung verstärkt.
Der Friedensvertrag von 2016 enthält neben den Bestimmungen, die eine breite ökonomische Teilhabe ermöglichen sollen, ein eigenes Kapitel zum Thema politische Partizipation. Der historische Ausschluss großer Teile der Gesellschaft von nachhaltiger Entwicklung und friedlicher demokratischer Teilhabe wird als einer der wesentlichen Gründe für den bewaffneten Konflikt gesehen. Die in vielen Teilen rechtswidrige Gewaltanwendung hat in einem Teil der Bevölkerung die Wahrnehmung verfestigt, dass friedlicher Protest nicht gehört und nur mit Repression beantwortet wird. Präsident Duque hat nach mehr als 10 Tagen der Proteste einen Dialog angeboten. Doch nach der vorhergehenden Militarisierung und Polarisierung steht dieser vor enormen Herausforderungen. Die Regierung hat frühere Vereinbarungen oftmals nicht eingehalten. Dennoch bleibt ein Dialog der einzige Weg zu einer Lösung.

Angesichts dieser Entwicklung und der Tatsache, dass Deutschland und die EU die Umsetzung des Friedensabkommens mit vielen Programmen unterstützen, halten wir es als Deutsche Menschenrechtskoordination Kolumbien für erforderlich, dass sowohl auf deutscher als auch auf europäischer Ebene gegenüber der kolumbianischen Regierung zum Ausdruck gebracht wird, dass:

-      sie den unverhältnismäßigen Einsatz von Polizeigewalt gegen Protestierende beenden und das Recht auf friedliche Proteste, die Versammlungs- und Meinungsfreiheit garantieren muss;

-      friedliche Proteste nicht durch staatliche Institutionen stigmatisiert werden dürfen;

-      die Ermittlung, Aufklärung und Sanktionierung der mutmaßlich begangenen Menschenrechtsverletzungen durch zivile und nicht durch Militärgerichtsbarkeit gewährleistet werden muss; sie eine unabhängige Untersuchung mutmaßlicher Menschenrechtsverletzungen bei den Protesten durch internationale Menschenrechtsinstitutionen ermöglichen sollte;

-      sie die Umsetzung der im Friedensabkommen beschlossenen Maßnahmen zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger*innen, der Auflösung paramilitärischer Strukturen und deren ökonomisch-militärischen Verbündeten gewährleisten muss;

-      sowie die Durchführung partizipativer effektiver sozioökonomischer Entwicklungsprogramme gewährleisten und fördern sollte.

Die Bundesregierung sollte die Arbeit des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte in Kolumbien weiterhin öffentlich unterstützen.

Im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit sollte die kolumbianische Regierung aufgefordert werden, ihre Maßnahmen kohärent darauf auszurichten, die extreme Ungleichheit im Land abzubauen und die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte der gesamten Bevölkerung zu respektieren, zu schützen und zu gewährleisten.

Die internationale Gemeinschaft sollte sich darüber hinaus an einem internationalen Monitoring für die juristische Aufklärung der Geschehnisse im Rahmen der Proteste beteiligen und aktiv, im Verbund mit renommierten, zivilgesellschaftlichen Akteuren, z.B. Kirchen, Dialogprozesse begleiten, die unterschiedliche Sektoren einschließen müssen.
Die geplante deutsche Kooperation bei der Schulung der kolumbianischen Polizei sollte die Bundesregierung nur dann in Betracht ziehen, wenn sie gerade in Anbetracht der jüngsten Ereignisse einen ernsthaften Willen zur strukturellen Reformen bei der kolumbianischen Regierung erkennt, der an nachvollziehbaren Kriterien festzumachen ist.

Kontakt für Rückfragen: kolko e.V., mail@kolko.net



[1] Allein 2020 sind laut Statistikamt 3,5 Millionen Menschen unter die Armutsgrenze gerutscht. https://www.elpais.com.co/economia/3-5-millones-de-personas-cayeron-a-la-pobreza-en-en-el-2020.html

[2] Die allermeisten von ihnen junge Menschen/Studierende zwischen 17 und 27 Jahren.

[3] z.B. Boletín Informativo No. 12, Defender la Libertad, https://defenderlalibertad.com/boletin-informativo-12-paronacional/