Zum Inhalt [I]
Zur Navigation [N]
Kontakt [C] Aktuelles [2] Suchfunktion [4]
Titel PM (29.7 x 21 cm) (710 x 450 mm) (710 x 450 px) (29.7 × 21 cm)(9).png

Tribunal Popular en Siloé

06. Mrz 2023

Zivilgesellschaftliches Tribunal von Siloé/Cali verurteilt kolumbianischen Staat wegen schwerer Menschenrechtsverbrechen

Eine vorwiegend aus bekannten Wissenschaftler:innen zusammengesetzte internationale Jury hat am 20. Februar 2023 den kolumbianischen Staat symbolisch wegen Menschenrechtsverbrechen während der Proteste 2021 gegen die Steuerreform verurteilt. Gaby Pucher hat als Vertreterin für Attac Deutschland am Tribunal teilgenommen und Margaret Buslay als Vertreterin für pax christi.  

Das "Tribunal Popular en Siloé" prüfte insgesamt 159 Fälle von Verbrechen der Sicherheitskräfte. Aktivist:innen aus dem betroffenen Armutsviertel der Stadt Cali hatten das Beweismaterial zusammengetragen. Sie beklagen allein 16 Morde an Menschen aus dem Viertel; unter den Ermordeten waren mehrere Minderjährige.

Die insgesamt 14 Geschworenen kamen aus lateinamerikanischen Ländern, den USA und Europa; vier von Ihnen verlasen bei dem öffentlichen Akt in der Stadt Cali das Urteil, darunter Raul Zelik aus Deutschland. Als Garant*innen des Tribunals waren Vertreter:innen aus Deutschland und Spanien eingeladen. Ein ausführlicher Bericht zum Tribunal und den Hintergründen ist auf der Plattform amerika21 abrufbar.  Der öffentliche Akt wurde aufgenommen und das Video auf facebook verlinkt, dort sind auch weitere Dokumente zum gesamten Verlauf des Tribunals zu finden.

Das Tribunal machte den Ex-Präsidenten Ivan Duque sowie weitere Politiker und hochrangige Militärs für die begangenen Verbrechen verantwortlich. Die Verbrechen wurden während der mehrmonatigen, großen sozialen Proteste im Jahr 2021 verübt. Das Viertel Siloé war eines der Epizentren der landesweiten Proteste, deren Ausgangspunkt eine geplante Steuerreform war, die vor allem die marginalisierten Schichten sowie die untere Mittelschicht betraf, die ohnehin während der Pandemie extrem gelitten hatten.

Staatliche Stellen haben ihre Aufgabe, die Fälle zu untersuchen bisher nicht erfüllt. Sie haben Ermittlungen gar nicht aufgenommen oder verschleppt und dadurch die Straflosigkeit der Verantwortlichen bis heute ermöglicht.

Das Tribunal gab den Angehörigen der Opfer endlich eine Stimme, sie haben - so die Tribunal-Jury - wie die gesamte Gesellschaft ein Recht darauf, zu erfahren was genau geschehen ist und wer die Verantwortlichen sind. Außerdem eröffnet das Tribunal die Möglichkeit, die Erinnerung an die Ereignisse zu bewahren.

Von der neuen Regierung fordert die Jury u.a., die Familien zu schützen sowie zu entschädigen, unabhängige juristische Untersuchungen einzuleiten und die Straflosigkeit zu beenden.

Eindrücke und Erfahrungen

Als Garant:innen kamen wir in den Tagen vor der öffentlichen Sitzung des Tribunals mit den Mitgliedern der Jury und den Familien der Opfer an einem neutralen, sicheren Ort außerhalb der Stadt zusammen. Es waren für uns besondere Erfahrungen; wir konnten Anteilnahme und Solidarität zeigen sowie erleben, in größeren Runden und persönlichen Gesprächen mit den Menschen in Vertrauen schaffenden Kontakt kommen und traurige wie Freude stiftende Momente teilen. Es war für uns eine bereichernde Erfahrung, die Stärke zu erleben, die die betroffenen Familien im Kontext der Vorbereitung des Tribunals in den vergangenen Monaten erreicht hatten. Sie hatten die Kraft, sich bei dem nachfolgenden öffentlichen Akt der Urteilsverkündung noch einmal selbst zu äußern. 

An einem Nachmittag hatten wir die Gelegenheit, den Stadtteil Siloé kennen zu lernen, der eine lange Geschichte politischen Widerstands und bewundernswerter Selbstorganisation hat. Der Stadtteil mit seinen Menschen ist ein deutliches Beispiel für das brutale Modell von wirtschaftlicher und sozialer Exklusion, bei der der Staat klassistische und rassistische Diskriminierung der marginalisierten Bevölkerung in gewaltsamer Form anwendet.

Sozialen Protesten wird seit Dekaden mit brutaler Gewalt begegnet; der kolumbianische Staat agierte mit Kriegslogik, die die sozialen Konflikte militarisierte und die marginalisierten Menschen kriminalisierte. Paramilitärische Strukturen waren darin ebenso eingebunden.

Umso bewundernswerter erscheint uns in Siloé die ausgeprägte Selbstorganisation, die Kraft und Energie, die die Menschen nach wie vor aufbringen.

Auch Menschen aus Siloé haben eine allerdings noch vorsichtige Hoffnung, dass die neue Regierung ihre angekündigten Reformen konsequent verfolgt: Dazu gehört die Trennung von Polizei und Militär, deren Einheit die brutale Gewalt gegen Proteste bislang erleichtert.

Als Garantinnen des Tribunals sind wir damit beauftragt, über die Geschehnisse in Siloé breit zu informieren. Wir planen, wenn wir wieder aus Kolumbien zurück sind, vor allem in NRW-Städten Veranstaltungen, um über das Tribunal sowie weitere wichtige Entwicklungen in Kolumbien zu berichten. 

Autorinnen: Gaby Pucher und Margaret Buslay