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Impuls zum 27. Januar 2022

Zum Holocaust-Gedenktag

Impuls zum Holocaust-Gedenktag am 27. Januar 2022
Von Klaus Hagedorn, Geistlicher Beirat von pax christi 

Erinnern und erkennen – Ein Denkanstoß zum Holocaust-Gedenktag 2022
Ein Vorwort: Der 27. Januar – ein Denk-Tag
2005 erklärten die Vereinten Nationen und das Europäische Parlament den 27. Januar zum „Internationalen Holocaust-Gedenktag“. Das Datum erinnert an die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau durch die Rote Armee im Jahr 1945. Der 27. Januar ist also ein Denk-Tag: Gedenken und Nachdenken über die Vergangenheit – wegen Orientierung für die Zukunft! Er ist nicht nur ein Trauertag des Rückblicks in die NS-Vergangenheit. Er ist auch ein Tag des sorgenvollen Blicks in die Gegenwart. Seit 77 Jahren oft bei uns gesagt: Nie wieder? Und doch zu sehen: Schon wieder! Immer noch. Dieser Tag erinnert an die Ausrottung der Menschlichkeit in unserem Land, daran, wie aus der Humanität Nationalität und aus der Nationalität Bestialität wurde. Er macht hoffentlich unruhig, weil Nationalismus schon wieder sich aufbläht: bei uns und anderswo. Er erinnert daran, dass es Kräfte in unserem Land gibt, die jene Bestialität als „Vogelschiss in 1.000 Jahren deutscher Geschichte“ bezeichnen – und die nicht den Holocaust, sondern das Denkmal dafür als „Schande“ bezeichnen. 

Kein Gedenken garantiert Umkehr dauerhaft. Respekt, Aufklärung, Achtung von Minderheiten, recht verstandene Toleranz: das alles ist nie sicher; das alles ist zu lernen, immer und immer wieder neu. 
Wenn wir nicht erinnern, sondern auf stille Weise einstimmen in ein Verdrängen und Vergessen: Wir würden verraten – neu. Die Erinnerung an alles Leben und Leiden, die Memoria passionis, zeichnet uns als pax christi-Bewegung aus. Wir setzen dabei darauf, dass jeder Mensch dieser Erde eine Würde hat, die nicht zu nehmen ist, die von Gott gegeben ist „vor aller Zeit“ – „auf immer und ewig“. Wir setzen darauf, dass Gott einen jeden Menschen „mit Namen gerufen hat“, wie der Prophet Jesaja es ausdrückt. Yad VaSchem, die Holocaust-Gedenkstätte in Jerusalem – zu Deutsch: Hand und Name. Ein Namensmal! „Ich habe dich beim Namen gerufen; du gehörst mir.“ (Jes 43,2) - „Ich habe dich eingezeichnet in meine Hände.“ (Jes 49,16) – „Einen ewigen Namen gebe ich ihnen, der niemals ausgetilgt wird.“ (Jes 56,5) Im Jesaja-Buch ist Erinnerung unaufgebbar, unbedingt, existentiell. „Verweigerte Erinnerung ist Mord“, sagt ein jüdisches Sprichwort. Nicht zu erinnern: Das wäre ein erneuter Mord. 

Ein Bibelwort
„Liebe deinen Nächsten, er ist wie du“
Im Buch Levitikus, dem dritten Buch im Ersten Testament, steht ein wesentlicher Satz, den ich an diesem Denk-Tag erinnern will: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Lev 19,18). Wir kennen diesen Satz auch aus anderen Bibelstellen, haben ihn alle irgendwann gehört. Er ist eingeflossen in unsere abendländische Tradition. Martin Buber und Franz Rosenzweig, zwei wichtige Bibel-Übersetzer, übersetzen wohl richtiger: „Liebe deinen Nächsten, er ist wie du“. Damit wird deutlicher: Es geht nicht darum, die Liebe zu sich selbst zum Maßstab der Nächstenliebe zu machen. Die Israeliten sollten daran erinnert werden, dass der Nächste – egal ob Freund oder Feind – wesensgleich mit ihnen selber ist. Der Grund der Liebe und der Grund für die Achtung jedes anderen Menschen ist demnach nichts anderes als die Gleichheit aller Menschen. 

Man kann, man darf also – biblisch besehen – einen Menschen, einen Feind, nicht ohne weiteres töten oder vernichten. Denn: „Er ist wie du“ – oder: „Das bist du selbst!“  Man müsste also zunächst erklären, wenn man einen Menschen töten will, dass er nicht wie man selber ist. Als die Nazis Juden, Behinderte und Homosexuelle, Sinti und Roma vernichteten, haben sie das nicht einfach nur getan. Sie haben sich und andere darauf vorbereitet, indem sie diesen Menschengruppen abwertende Bezeichnungen gegeben haben, mit denen sie aussagten: „Sie sind nicht wie wir!“ Sie haben die Juden „Parasiten und Schmeißfliegen“ genannt, die Kranken „Minusvarianten“, Lesben und Schwule „Schädlinge am Volkskörper“. 

Es gibt die Grundeinsicht der Bibel, eine Grundüberzeugung vom ersten bis zum letzten Kapitel – und die heißt: Der Mensch, der neben dir lebt, ist wie du. Wenn man ihn mit dem Messer sticht, blutet er wie du. Sein Blut ist rot wie das deinige. Er weint Tränen wie du, wenn er Schmerzen hat. Er ist der Freude und des Glücks fähig – wie du selber. Er muss sterben – genau wie du. Darum behandle ihn, wie du selber behandelt werden willst; denn er ist dir gleich. Die Goldene Regel der Bibel! Der Dichter Erich Fried wurde einmal gefragt, wie er einen Neonazi beschreiben würde. Er, der Jude, antwortete: „Ein Neonazi ist ein Mensch, der unter Zahnschmerzen leiden kann wie ich selber; der Liebeskummer haben kann wie ich selber und der weinen kann wie ich selber.“  Gewiss hat Erich Fried noch einiges andere gesagt, aber zunächst hat er die Gleichheit eines solchen Menschen mit sich selber festgestellt. Diese Erkenntnis ist die eigentliche Tötungshemmung. Darum die vielfältige Erinnerung der Bibel: Dein Nächster ist wie du. Darum liebe ihn, darum erkenne ihm die Lebensrechte nicht ab, darum achte seine Andersheit. Versuche nicht, seine Eigenheit an deiner zu messen. Lass seine Fremdheit unberührt. Behandle ihn, wie du selber behandelt werden willst.
 
Ein Nachwort
Die Würzburger Synode (1971 - 1975) zu unserem Verhältnis zum jüdischen Volk
Das Gedenken am 27. Januar bedeutet anzuschauen, wo und wie wir uns nicht von solcher Erkenntnis leiten lassen. Es zeigt uns, wie gewalttätig und unmenschlich vieles war und ist und wie wir uns davor scheuen, Gewalt wirklich anzuschauen. Dabei ist christlicher Glaube immer auch Gewaltanschauung. Das Kreuz als Zentralsymbol steht dafür. Es geht nicht, Gras über Unrechtsgeschichte wachsen zu lassen. Solches führt dazu, dass die Opfer um das einzige betrogen werden, was unsere Ohnmacht ihnen schenken kann: das Gedächtnis. Deshalb hat die Würzburger Synode 1975 in ihrem Beschluss „Unsere Hoffnung“ wie folgt geschrieben – ein bis heute hoch aktueller Denkanstoß: 

„Wir sind das Land, dessen jüngste politische Geschichte von dem Versuch verfinstert ist, das jüdische Volk systematisch auszurotten. Und wir waren in dieser Zeit des Nationalsozialismus, trotz beispielhaften Verhaltens einzelner Personen und Gruppen, aufs Ganze gesehen doch eine kirchliche Gemeinschaft, die zu sehr mit dem Rücken zum Schicksal dieses verfolgten jüdischen Volkes weiterlebte, deren Blick sich zu stark von der Bedrohung ihrer eigenen Institutionen fixieren ließ und die zu den an Juden und Judentum verübten Verbrechen geschwiegen hat. Viele sind dabei aus nackter Lebensangst schuldig geworden. Daß Christen sogar bei dieser Verfolgung mitgewirkt haben, bedrückt uns besonders schwer. Die praktische Redlichkeit unseres Erneuerungswillens hängt auch an dem Eingeständnis dieser Schuld und an der Bereitschaft, aus dieser Schuldgeschichte unseres Landes und auch unserer Kirche schmerzlich zu lernen: Indem gerade unsere deutsche Kirche wach sein muß gegenüber allen Tendenzen, Menschenrechte abzubauen und politische Macht zu mißbrauchen, und indem sie allen, die heute aus rassistischen oder anderen ideologischen Motiven verfolgt werden, ihre besondere Hilfsbereitschaft schenkt, vor allem aber, indem sie besondere Verpflichtungen für das so belastete Verhältnis der Gesamtkirche zum jüdischen Volk und seiner Religion übernimmt.“ 

(aus: Unsere Hoffnung. Ein Beschluss der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland, Teil IV, 2: Für ein neues Verhältnis zur Glaubensgeschichte des jüdischen Volkes)

 

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