Nächstenliebe verlangt Klarheit Kein Naziaufmarsch, nirgendwo ...!
14. Feb 2012
" Neonazis aus ganz Europa mobilisieren für den 13. und 18. Februar 2012 erneut zu
Aufmärschen nach Dresden. Die Aufmärsche anlässlich der Bombardierung Dresdens
im Februar 1945 haben sich in den letzten Jahren zum größten, regelmäßig
stattfindenden Treffen von Alt- und Neonazis jeder Couleur in Europa entwickelt.Rechte Gewalt und entsprechende Einstellungen in Dresden und anderswo sind
unvereinbar mit demokratischen Werten, die für viele von uns in unseren jeweiligen
religiösen Überzeugungen wurzeln.
Europas größten Naziaufmarsch blockieren friedlich und
entschlossen!
Gerade als Christinnen und Christen sind wir aufgefordert uns dieser
menschenverachtenden und menschenfeindlichen Ideologie massiv
entgegenzustellen. Wir laden alle Menschen ein, sich am 13./18. Februar 2012 unter
dem Motto "Nächstenliebe verlangt Klarheit Keine Naziaufmärsche, nirgendwo" an
unserem christlichen Blockadepunkt zu beteiligen. Wir beten für Frieden und
Menschenwürde, für gleiche Rechte aller Menschen ohne Ansehen der Religion, der
Nationalität, der Hautfarbe, des Geschlechts, der sexuellen Identität und des Standes,
für Stärkung gesellschaftlichen Engagements gegen Menschenfeindlichkeit und
Gewalt.Angesichts der in den letzten Monaten bekannt gewordenen Mordserie der
Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) ist es in diesem Jahr
besonders wichtig, dass viele Menschen aus der gesamten Bundesrepublik ein
deutlich sichtbares Zeichen gegen rechten Terror und menschenfeindliche
Einstellungen setzen.
Gerade weil wir als Christ_innen das Recht auf freie Meinungsäußerung als hohes
Gut schätzen, müssen wir uns denen entschlossen entgegenstellen, die die
unveräußerlichen Menschenrechte mit Füßen treten und die Demokratie beseitigen
wollen.
Wir wollen uns mit unseren Gebeten und Liedern friedlich und entschlossen denen
entgegenstellen, die den Gedenktag missbrauchen, um ihre menschenfeindliche
Gesinnung zu demonstrieren.
Der Geschichtsverdrehung widersprechen!
Großveranstaltungen wie die in Dresden fördern neonazistische Strukturen
zelebrieren Zusammenhalt im Sinne einer nationalsozialistischen Identität und
dienen der Vernetzung in ganz Europa.
Auf Transparenten und in Flugschriften setzen Neonazis die Opfer der alliierten
Luftangriffe auf Dresden mit den Ermordeten in den Konzentrations- und
Vernichtungslagern gleich und verharmlosen damit den Holocaust. Durch solche
revisionistischen Gedenkveranstaltungen werden Traditionslinien zum historischen
Nationalsozialismus gestärkt. Der Vernichtungscharakter der deutschen
Kriegsführung im 2. Weltkrieg wird verschwiegen und die Fragen nach Schuld und
Verantwortung werden verdreht.
Während Leningrad, Rotterdam oder Coventry Ziele des deutschen Angriffs- und
Vernichtungskrieges waren, wurde Dresden um der Beendigung des mörderischen
NS-Regimes willen bombardiert. Das Ziel der Alliierten war die Befreiung Europas
vom Nationalsozialismus. Um der neonazistischen Propaganda entgegenzutreten,
darf dieser Unterschied nicht verwischt werden. Diese Sicht schließt auch die Form
der Trauer um die Toten dieses Bombenangriffs auf Dresden ein.
Ziviler Ungehorsam ist ein Bürgerrecht!
Von den Kriminalisierungsversuchen zivilen Ungehorsams durch Teile der Politik
und Behörden lassen wir uns nicht irritieren. Gewaltfreie Blockaden sind eine
Gewissensentscheidung und gehören zum Grundrecht auf freie Meinungsäußerung. Die unabdingbare und bedingungslose Friedlichkeit aller Aktions- und Protestformen
ist für Christinnen und Christen in der Nachfolge Christi unbedingte Voraussetzung
für solches Handeln. Friedliche Blockaden haben in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland mehrfach zu positiven Veränderungen in Politik und
Gesellschaft geführt.
Wir rufen alle Menschen und insbesondere Christinnen und Christen - Junge und
Alte, aus Ost oder West, mit oder ohne deutschen Pass - auf, Neonazis nicht
ungehindert durch Dresden marschieren zu lassen.
Tun Sie was nutzen Sie die Möglichkeiten!
Wir stehen für Vielfalt und Kreativität. Alle anderen friedlichen Aktionsformen und Veranstaltungen zivilgesellschaftlichen Widerstands gegen demokratiefeindlichen Ungeist unterstützen wir ausdrücklich. Wir freuen uns, dass zivilgesellschaftliche Akteure, die Stadt Dresden und erstmals auch die sächsische Staatsregierung zu sicht- und hörbarem Widerstand gegen extrem rechte Dominanzbestrebungen und Aufmärsche aufrufen. Wir Christen müssen und wollen uns überall und so auch in Dresden gegen den gesellschaftlichen und politischen Rechtsextremismus wehren, weil er fundamental unseren christlichen Grundüberzeugungen widerspricht. Es geht um den Kern unseres Glaubens an Gottes Schöpfung, unser aller Geschöpflichkeit ohne Unterschiede im Ansehen der Person und die Gemeinschaft mit den Ohnmächtigen und Schwachen.!
SprecherInnenrat der Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus, (Berlin/Dresden, den 26. Januar 2012)
Kommentar :
Ziviler Ungehorsam: Wachen über die Legitimität des Rechts - Zur Auseinandersetzung mit Neonazi-Aufmärschen in Dresden und anderswo
Unter dem Motto 'Nächstenliebe verlangt Klarheit' Kein Naziaufmarsch, nirgendwo hat die 2010 in Dresden gegründete Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche & Rechtsextremismus (BAGKR) Christen dazu aufgerufen, die geplanten Aufmärsche von Neonazis am 13. und 18. Februar 2012 anlässlich der Bombardierung Dresdens im Februar 1945 friedlich und gewaltfrei zu blockieren. Rechte Gewalt und entsprechende Einstellungen in Dresden und anderswo sind unvereinbar mit demokratischen Werten, die für viele von uns in unseren jeweiligen religiösen Überzeugungen wurzeln Wir wollen uns mit unseren Liedern und Gebeten friedlich und entschlossen denen entgegenstellen, die den Gedenktag missbrauchen, um ihre menschenfeindliche Gesinnung zu demonstrieren, heißt es zur Begründung in dem Aufruf, den Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF) am 26. Januar 2012 verbreitet hat. Auch das Bündnis Nazifrei - Dresden stellt sich quer und andere zivilgesellschaftliche Kräfte rufen zu Aktionen des Zivilen Ungehorsams gegen die Naziaufmärsche in Dresden auf. Gleichzeitig besteht in weiten Teilen der Gesellschaft eine große Unsicherheit, ja Unkenntnis darüber, was Ziviler Ungehorsam ist und welche Bedeutung ihm für die Weiterentwicklung des demokratischen Verfassungsstaates zukommt.
Ziviler Ungehorsam ist Ausdruck einer bürgerschaftlichen Wachsamkeit in der Demokratie, die danach fragt, ob das positive Recht und die Art seiner Anwendung den verfassungsmäßigen Standards von Menschenwürde, Demokratie, Menschenrechten und Gerechtigkeit auch tatsächlich entspricht. Ziviler Ungehorsam signalisiert, dass es eine nicht aufhebbare Spannung zwischen positivem Recht und Gerechtigkeit, zwischen rechtlich zulässig und richtig, zwischen Gesetz und Gewissen gibt, die auch eine noch so perfekte Verfassung und gute Gesetze nicht auflösen können. Ziviler Ungehorsam legt den Finger auf die Wunde gesellschaftlicher Defizite, Fehlentwicklungen und Skandale, die mit dem bloßen Verweis auf das Rechtsstaatsprinzip und die Einhaltung bestehender Gesetze weder "erledigt" noch geheilt sind. Im Kern geht es um die Frage: Ist rechtsstaatliche Legalität ( = das geltende Recht) ausreichend durch ethische Legitimität gedeckt? Wie kann die Spannung zwischen Legalität und Legitimität in einer konkreten Konfliktsituation aufgelöst werden zugunsten von mehr Legitimität innerhalb fortschreitender Legalität?
Ein im Rahmen der geltenden Gesetzeslage und anwendung nicht lösbarer Konflikt entsteht durch die skandalöse Praxis, dass Aufmärsche von Neonazis, die die demokratische Ordnung in Deutschland abschaffen wollen, rechtlichen und polizeilichen Schutz genießen, während die Gegner solcher Aufmärsche als außerhalb von Recht und Gesetz stehend diffamiert und drangsaliert werden, wenn sie mit Aktionen Zivilen Ungehorsams auf diese Aufmärsche antworten. Der Staat und seine Institutionen tun gut daran, die Vertreter des Zivilen Ungehorsams in diesem Konflikt nicht pauschal als Rechtsverletzter zu kriminalisieren. Denn wer Zivilen Ungehorsam propagiert, will zunächst Alarm schlagen und auf einen unerträglichen Zustand aufmerksam machen. Er/sie will innerhalb der bestehenden Rechtsordnung ein besseres gegenüber dem schlechteren Recht, die Perspektive des ethisch Gebotenen gegenüber dem gesetzlich Geregelten, die Annäherung von geltendem Recht und Rechtsempfinden zur Geltung bringen, damit dieser unhaltbare Zustand geändert wird. Er/sie nimmt in Kauf, dass das als Verstoß gegen geltendes Recht vom Staat geahndet wird. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche & Rechtsextremismus mobilisiert gegen diesen unhaltbaren Zustand. Sie nimmt für ihre Position in Anspruch, dass gewaltfreie Blockaden gegen Neonazi-Aufmärsche auf einer Gewissensentscheidung basieren und vom Grundrecht auf freie Meinungsäußerung gedeckt sind.
Manche öffentliche Aufgeregtheit über Blockaden von Neonazi-Aufmärschen als Mittel Zivilen Ungehorsams wird inzwischen von der allgemeinen Fassungslosigkeit über das staatliche Versagen gegenüber dem gewaltbereiten Rechtsextremismus überlagert. Das Blinde-Kuh-Spiel von Verfassungsschutz-Organen gegenüber Rechts hat die beispiellose, neunfache Mord-Serie der Zwickauer Neonazi-Zelle zwischen 1998 und 2007 ermöglicht, mutmaßlich verschleiert und jedenfalls nicht verhindert. Angesichts dieses systemischen Versagens wäre es angebracht, wenn sich staatliche Behörden generell etwas mehr Zurückhaltung gegenüber Aktionen und Protagonisten Zivilen Ungehorsams gegen Neonazi-Aufmärsche auferlegen würden. Sie können Blockierer gegen Rechts schlechterdings nicht mit strengeren Maßstäben messen wollen als ihre eigenen professionellen Verfassungsschützer, die Recht und Gesetz bei der Verfolgung von rechtsextremistischen Gewalttaten so offenkundig fahrlässig missachtet haben.
Schließlich kann ein Blick in die jüngste deutsche Geschichte dazu beitragen, die Regeln der Verhältnismäßigkeit nicht aus den Augen zu verlieren. Ziviler Widerstand war ein kritischer Wegbereiter im Prozess der Entwicklung des modernen demokratischen Verfassungsstaates. Die Normen und Standards, nach denen Staat und Gesellschaft nach 1949 organisiert worden sind, verdanken sich in hohem Maß den Überzeugungen, die Männer und Frauen zwischen 1933 und 1945 im Widerstand gegen die NS-Diktatur vertreten und verteidigt haben. Sie haben dafür mit ihrem Leben bezahlt. Die normative Bedeutung des Widerstandes gegen die NS-Diktatur für den Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland muss sich gerade heute in der Auseinandersetzung mit aggressiven Neonazis bewähren. Wie würden Hans von Dohnanyi, Adam von Trott zu Solz oder Dietrich Bonhoeffer reagieren, müssten sie in Dresden oder einer beliebigen deutschen Stadt erleben, dass die Aufmärsche von Neonazis mit ihren menschenverachtenden, geschichtsverfälschenden und demokratiefeindlichen Parolen rechtsstaatlichen Schutz genießen, während gleichzeitig die Protagonisten des zivilen Ungehorsams gegen die Neonazis von Polizei und Behörden Recht und Gesetz zu spüren bekommen?
Jochen Garstecki