Maillé, „das andere Oradour“
08. Okt 2024
Das vergessene Märtyrerdorf Maillé erlebt 2024 aus Anlass des 80. Jahrestags des Gedenkens zum ersten Mal in seiner Geschichte eine ganz besondere deutsch-französische Versöhnungsfeier. Während pax christi bereits in den 1950er Jahren in Oradour-sur-Glane mit einem Kelch aus Gold und in der Gemeinde Asq bei Lille 1958 mit einer gemeinsamen Messe des damaligen deutschen Präsidenten von pax christi, Bischof Schröffer, und Achille Kardinal Liénart aus Lille Versöhnungsfeiern abhalten konnten, gab es etwas ähnliches in Maillé noch nie. Erst 50 Jahre nach dem zweitgrößten Nazi-Massaker in Frankreich begann die Gemeinde eine eigene Erinnerungskultur zu entwickeln. Da am gleichen Tag, dem 25.8.1944, die Befreiung von Paris stattgefunden hatte, konnte sich Maillé in Frankreich lange Zeit nicht bekannt machen. So war Maillé lange vergessen und in Deutschland nicht bekannt geworden. Die erste Einladung an mögliche deutsche Kontaktpartner erfolgte 2017, als der Bürgermeister Bernard Eliaume die Bitte an die Vereinigung „Gegen Vergessen – Für Demokratie“ richtete, doch einmal nach Maillé zu kommen. Diese Aufgabe fiel Friedhelm Boll zu, der seit 2017 an einer neuen Etappe der Erinnerungskultur mitwirken konnte.
Ab 2019 gelang es, jährliche Besuche einer größeren Delegation aus Deutschland, bestehend aus Mitgliedern von Gegen Vergessen-Für Demokratie, dem deutsch-französischen Verein Cluny aus Hamburg und der deutschen Sektion von pax christi, nach Maillé zu organisieren. Die jährlichen, meist intensiven Gespräche mit den Überlebenden entwickelten sich im Laufe der Jahre zu anhaltenden freundschaftlichen Begegnungen, über die regelmäßig in den Zeitschriften von Gegen Vergessen und Cluny, Hamburg sowie in einem Dokumentarfilm von Layla Kiefel und David Hanna berichtet wurde.
Schon früh plante die Gemeinde eine herausragende Feier zum 80. Jahrestag des Massakers. Die deutsche Delegation signalisierte, dass sie durch den Präsidenten von pax christi, Bischof Peter Kohlgraf aus Mainz, begleitet werde, sodass eine Begegnung mit dem Erzbischof aus Tours zu erwarten sei. Als Geschenk einigten sich Bürgermeister Jean Jacques Roy, Romain Taillefait und die deutsche Delegation auf einen Ginkgo Baum als Geschenk der Versöhnung, der von Bischof Kohlgraf gesegnet werden sollte.
Anders als in den vorausgegangenen Jahren fand der Gottesdienst unter zwei großen Zelten auf dem Vorplatz der kleinen Dorfkirche statt.
Erstmals traf Bischof Kohlgraf mit seinem Amtsbruder Vincent Jordy, Erzbischof von Tours, in Maillé zusammen, um die Hl. Messe zu feiern und um anschließend den von pax christi und Gegen Vergessen-Für Demokratie gespendeten Baum des Friedens und der Versöhnung zu segnen. Die Bischöfe, der Gemeindepfarrer und der pax christi-Diakon Horst-Peter Rauguth konzelebrierten die Messe, wobei sie von einem Chor der Gemeinde und einem Blasorchester unterstützt wurden. Die Segnung des Versöhnungsbaums verband Bischof Kohlgraf mit einer Ansprache, in der er die Worte sprach, auf die die Gemeinde seit Jahren gewartet hatte:
„Dass ich als deutscher Bischof heute hier sein darf und vor Ihnen sprechen kann, erfüllt mich mit großem Dank. Auch möchte ich als Bischof von Mainz und Präsident von pax christi meine Erschütterung und meine tiefe Trauer zum Ausdruck bringen über die unfassbaren Verbrechen, die in Ihrer Gemeinde von Deutschen begangen wurden. Dass später viele Mörder straflos blieben und schwerste Verbrechen nicht gesühnt wurden, erfüllt mich mit Scham. Als Bischof schließe ich mich hiermit dem deutschen Bundespräsidenten an, der in Oradour sur Glane davon gesprochen hat, dass Deutschland damit eine zweite Schuld auf sich geladen hat. So biete ich Ihnen, den Überlebenden und der ganzen Gemeinde von Maillé, meine Hand und bitte um Versöhnung. Ich bin mir der Schuld bewusst, die Deutschland zur Zeit des Nationalsozialismus auf sich geladen hat. Zur Versöhnung gehört auch das Versprechen, dass wir uns den Verbrechen stellen und sie nicht dem Vergessen anheimgeben. Als Bischof und Christ ist es für mich daher von unschätzbarer Bedeutung, dieses Leid konkret an Ort und Stelle kennenzulernen und es dort, wo ich es kann, auch ein wenig mitzutragen.“
Die Geste der Versöhnung unterstreicht der Bürgermeister durch eine freundschaftliche Umarmung mit Friedhelm Boll, der seit 2017 die deutsche Delegation geleitet und auf diesen Tag der Versöhnung hingearbeitet hat. Der Bürgermeister wie auch viele der betroffenen Familien sprachen davon, dass sie noch nie eine solche bewegende Gedenkveranstaltung in Maillé erlebt hätten. Jean-Jacques Roy sagte: Er sei „très heureux de cette cérémonie. Il y a eu beaucoup d’émotion avec des mots extraordinaires. Man kann daher sagen, dass Maillé die Worte unseres Bischofs nicht vergessen wird. In der Einschätzung des Direktors des Maison du Souvenir, Romain Taillefait, hat es noch nie so viel deutsche Präsenz in Maillé gegeben. Das sollte man hervorheben! Ein deutscher Bischof, der mit seinem Diakon und dem französischen Erzbischof gemeinsam die Messe liest und der die Segnung des Friedens- und Versöhnungsbaums mit einer Ansprache auf Deutsch verbindet (schrittweise übersetzt von Friedhelm Boll) ist etwas ganz Besonderes für Maillé.
Zu diesen besonderen Ereignissen, die mit der kirchkirchlichen Zeremonie verbunden sind, kamen noch eine Reihe anderer wichtiger Persönlichkeiten hinzu: Seitens pax christi war die Generalsekretärin Esther Mydla vertreten, was bedeutete, dass die gesamte aktive Bewegung unsere Arbeit in Maillé unterstützte. Zudem konnten wir einen führenden Vertreter der französischen Pax Christi-Bewegung, Hervé Dory, begrüßen.
Von besonderer Bedeutung war der kurzfristig angesagte Besuch der NRW-Jungendministerin Josefine Paul. Auch dies wertete die Feierlichkeiten enorm auf. Sie repräsentiert die von ihr unterstützte langjährige Jugendarbeit, die seit 2010 nach Jugendliche aus schwierigen Elternhäusern nach Maillé brachte und die zu einer richtigen Austauscharbeit entwickelt werden soll.
Aus der Sicht der deutschen Delegation sollte man ebenfalls erwähnen, dass die deutsche Seite schon 2021 mit dem Wunsch der Überlebenden konfrontiert wurde, von repräsentativer deutscher Seite das Wort „Reue“ zu hören (repentance). Schon damals – als noch niemand das Wort Versöhnung aussprach – überschrieb die Zeitung Nouvelle République ihren Bericht mit dem Titel: Maillé „sur la voie de la réconciliation“. Wir hoffen, dass wir in diesem Jahr diesen Wunsch gerade durch die Worte von Bischof Kohlgraf erfüllen konnten.
Zu erwähnen ist auch, dass neben dem Baum der Versöhnung zwei Bänke aufgestellt wurden, die von der deutsch-französischen Gesellschaft Cluny aus Hamburg und von Gegen Vergessen – Für Demokratie geschenkt wurden.
Die Überlebenden und die Deutschen
Wie in jedem Jahr sprachen wir auch dieses Mal mit Zeitzeugen (meist der 2. Generation) und ihren Kindern. Da die Erinnerungskultur erst 50 bis 60 Jahre nach den Ereignissen entwickelt wurde, erfuhren die Nachkriegskinder erst sehr spät, manche erst mit dem Renteneintritt, von dem, was mit ihren Eltern genau passiert war. Dominique Guitton erhielt zwar mit 10 Jahren das Buch des damaligen Pfarrers, der schon 1944 die erste Zeugenbefragung erstellt hatte. Außer den schrecklichen Fotos, verstand sie den Zusammenhang nicht. Erst 2004, als der erste Film im Fernsehen kam, sah sie ihre Mutter erzählen und ihre die Tränen fließen.
Madame Gandard meinte, ihre Mutter sei voll Hass gewesen. Für viele andere war das Deutsche einfach tabu oder gar verflucht. Daher lässt sich verstehen, dass der verstorbene Bürgermeister Chedozeau noch 2002 seinem Nachfolger Bernard Eliaume einschärfte, keine Deutschen im Ort, keine deutsche Sprache, keine Autos mit deutschen Nummernschildern. Sollten sie dennoch deutsche Freunde empfangen, dann bitte die Autos sofort in der Garage verstecken. Somit lässt sich verstehen, dass es 60 - 70 Jahre dauerte, bis die ersten Deutschen nach Maillé kamen. Als Staatsanwalt Maas 2005 kommen sollte, fragten einige: Wird er in Springerstiefel durchs Dorf marschieren, so wie die SS? Als er sich dann als ein sehr verständiger, den Zeitzeugen und ihren Geschichten zugewandter Mensch entpuppte, waren viele sehr überrascht. Als ab 2010 deutsche Jugendliche aus sozial schwierigen Verhältnissen ins Dorf kamen, um sich nützlich zu machen, ließ man sie gewähren. Serge Martin, der Vorsitzende der Opfergemeinschaft kümmerte sich ja um sie. Dies war auch der Hintergrund für den Antrag von „Gegen Vergessen – Für Demokratie“ ihm das Bundesverdienstkreuz zu verleihen, im Herbst 2018 von Staatsminister Michael Roth überreicht wurde. Serge Martins Memoiren, hervorgegangenen aus einem Interview mit Romain Taillefait, bedeuteten für Romain das Bewegendste, was er in Maillé je erlebt hat.
Die Delegation des Landschaftsverbands Rheinland (LVR), der seit 2010 die Jugendlichen und nun auch die deutsche Version des Buchs von Martin finanziert hatte, erlebte ergreifende Momente. Kaum hatte Serges Ehefrau Pierrette Martin das Buch in die Hand bekommen, strömten ihr die Tränen. Das folgende Gespräch widmete sich ihrem verstorbenen Mann, der Kinder sehr liebte, die immer zu ihm spielen kamen. Die Frage, ob die Kinderlosigkeit eine Folge des Massaker-Traumas war, blieb offen.
Im Anschluss daran stellten die Vertreterin der parlamentarischen Versammlung des LVR, Frau Astrid Natus-Can und die Leiterin des Landesjugendamts Martina Leshwange das Projekt der Jugendbegegnungen vor, das in Zukunft mit der französischen Organisation compagnons battiseurs getragen und zu einem regelrechten jährlichen Austausch gestaltet werden soll. Damit wird Maillé zu einem Referenzort für derartige Jugendbegegnungen, die der LVR auch mit Italien, Polen und anderen Ländern plant. (Hoffentlich fallen diese Vorzeigeprojekte nicht den Kürzungen der Landesregierung zum Opfer
Auch in diesem Jahr haben wir uns bewusst mit Zeitzeugen der zweiten Generation getroffen. Dies brachte eine Reihe Neuigkeiten. Ghislaine Demassounge erzählte, dass es sehr, sehr lange gedauert hat, bis ihre Mutter Eugenie Bernard auf Drängen ihrer Kinder endlich erzählte. Aber sie wollte es nicht bei sich zu Hause tun, sondern bei ihrer Tochter. Dort war auch der Enkel Aubin dabei, der im Kinderzimmer warten sollte. Beim Kaffeetrinken habe er gefragt: „Grandmère, tu te souviens…?“ Die Kinderfrage habe dann den endgültigen Anstoß gegeben für die Erzählung von Eugenie Bernard. Das aus dem Interview entstandene Buch habe man zwei Jahre lang nur in der Familie verteilt. Die Mutter habe sich lange gesträubt, das Buch zu verbreiten. Da die gesamte Familie überlebt hatte, war sie von Schuldgefühlen geplagt und sie wollte auf keinen Fall mit ihrer Geschichte angeben. Ihre Schuldgefühle schlossen ihr den Mund. Auf dem Land rede man nicht über solche Gefühle. Für andere Überlebende (Monique und Lisiane Chedoseau) spielte das Deutsche dann doch eine Rolle. Sie berichteten, dass ihre politisch linksstehende Familie nach dem Krieg meinte, es wäre sinnvoll Deutsch zu lernen, um evt. gefährliche, „politische Vorzeichen“ in Deutschland zu erkennen. So gab es in ihrer Familie eine Brieffreundschaft und einen Austausch mit einer im Sekthandel tätigen Familie aus Mainz. Außerdem wurde erwähnt, dass der inzwischen verstorbene Bürgermeister Chedozeau, der keine Deutschen im Dorf haben wollte, selbst in den 1880er Jahren einen Briefkontakt mit einem deutschen Lehrer pflegte.
Abschließend kann man festhalten, dass viele der Opferfamilien uns sagten, dass sie froh seien über unsere Besuche und dass es ihnen guttue. Manche sagten uns auch, dass sie froh darüber seien, die Zeit der Versöhnung noch zu erleben. Nicht wenige erklärten sich bereit, als Zeitzeugen nach Deutschland zu kommen.
Unser diesjähriger Besuch endete mit zwei Höhepunkten: Am Montag, den 26.8. nachmittags, hatten wir alle Zeitzeugen und ihre Angehörigen zu Kaffee und Kuchen eingeladen. Obwohl diese Einladung erst am Tag zuvor bekannt gegeben werden konnte, fanden sich ca. 30 Personen aus Maillé ein. So ergaben sich nochmals freundschaftliche Gespräche mit einzelnen Mitgliedern aus unseren beiden Delegationen. Martina Leshwange hatte als Leiterin des Landesjugendamts des LVR freundlicherweise die gesamten Kosten für diese Einladung übernommen. Herzlichen Dank, liebe Martina.
Beendet wurde der Tag mit der Aufführung des 2022 gedrehten Dokumentarfilms von Layla und David in der französischen Fassung. Der Filmsaal des Maison du Souvenir konnte nicht alle Zuschauer fassen, so groß war das Interesse. Daran schloss sich eine z.T. intensive Diskussion über die weitere Entwicklung der Erinnerungskultur an, die Layla und David ja zur Sprache gebracht hatte. Offenbar waren auch Personen von auswärts erschienen, die an dieser Diskussion besonderes Interesse hatten. Wie so oft in Maillé wurde ich von Besuchern mir unbekannten Personen angesprochen, die unsere Besuche außerordentlich wichtige fanden, sowohl im Blick auf die Stärkung eines demokratischen Europas wie im Blick auf die deutsch-französische Versöhnung. Manche luden mich zu ähnlichen Veranstaltungen in der Region, einmal auch zu einem Besuch unserer Delegation in einem anderen Märtyrerdorf ein. Offenbar hat Maillé wohl eine Vorbildfunktion erlangt.