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Selbstvergessene Kirchen? Spurensuche nach zehn Jahren Ökumenische Versammlung in der DDR 1989 - 1999

07. Dez 1999

Gesprächsbeitrag für die ökumenische Tagung "Ist die Hoffnung gegangen?", 16. bis 18. April 1999 in Dresden

Von Joachim Garstecki

Am 30. April 1989 nahmen die Repräsentanten von 19 Kirchen und Kirchlichen Gemeinschaften in Dresden zwölf Ergebnis-Texte der "Ökumenischen Versammlung der Christen und Kirchen in der DDR" entgegen, die im Rahmen des Konziliaren Prozesses ab Frühjahr 1988 von den etwa 150 Delegierten erarbeitet worden waren. 10 Jahre später fragte am gleichen Ort eine ökumenische Tagung nach der Bedeutung des Ereignisses und der Ergebnisse für Kirche und Gesellschaft heute.

Die Frage nach der Bedeutung und den Auswirkungen der Ökumenischen Versammlung von 1988/89 auf Kirchen und Theologie ist viel schwerer zu beantworten als die nach den Folgen der Versammlung in Gesellschaft und Staat. Die Kirchen und Freikirchen in der DDR sind 1988/89 in einer historisch beispiellosen ökumenischen Anstrengung zu Trägern des gesellschaftlichen Veränderungswillens geworden - und haben das dabei errungene Pfund unmittelbar danach an andere abgegeben. Sie schrieben gleichsam über Nacht und zu ihrer eigenen Überraschung das Drehbuch für den Aufbruch der DDR - und mußten zusehen, wie hinterher andere den Film machten. Sie haben sich in einmaliger Verknüpfung von Gesellschaftsdiagnose und biblischer Orientierung auf die Dynamik der Umkehr eingelassen - und die wurde wenige Monate danach von der Dynamik der Wende überholt. Was bedeutet diese Erfahrung für die Kirchen und die Ökumene selbst, und was besagt sie für den Umgang mit dem Erbe der Ökumenischen Versammlung heute?


Die Versammlung hatte mit "Umkehr in den Schalom Gottes" die ganzheitliche Bewegung des Fragens und Suchens nach einem dem Schalom gemäßen Leben und Handeln der Kirchen gemeint. Das war ein hoher Anspruch an alle beteiligten Kirchen. Er setzte voraus, daß der konziliare Prozess über die eigentliche Versammlung hinaus "auf Dauer" gestellt wird. Doch daraus wurde nichts. Was zwischen Sommer 1987 und Frühjahr 1989 mit der Ökumenischen Versammlung als kirchliche Umkehrbewegung in Gang kam, hatte aus heutiger Sicht für die beteiligten Kirchen und Freikirchen eher den Charakter eines Probelaufs. Es waren schöne ökumenische Flitterwochen - die anschließende Ehe kam umständehalber nicht zustande. Das Ereignis selbst war zu kurz, als daß es jene Nachhaltigkeit hätte erzeugen können, von der das "Wort an die Gemeinden" vom April 1989 sprach: "Die ökumenische Dynamik unserer Versammlung ist nicht umkehrbar... Eine Rückkehr hinter alte Mauern und in alte Spaltungen darf es nicht geben". Die beiden großen Kirchen in den neuen Ländern sind ab 1990 mit einer konstantinischen Rolle rückwärts erst einmal hinter alte Mauern abgetaucht. Und daß es innerhalb der Theologie einen spürbaren Impuls durch den konziliaren Prozess oder die ökumenische Versammlungen gegeben hätte, ist bisher nicht bekannt geworden. Die Unterbrechung, Vertagung und schließlich der Abbruch der kirchen-offiziellen Rezeptionsprozesse zu den Beschlüssen der ÖV im Herbst 1989 bedeutete eben auch, daß die Versammlung "abgehakt" werden konnte. Eine formal-institutionelle Aneignung und Verbreiterung ihrer Ergebnisse durch die Kirchen hat kaum oder gar nicht stattgefunden. Ich teile die inzwischen gängige Interpretation der Ökumenischen Versammlung als einer Art Auftaktveranstaltung der Herbstrevolution 1989 in der DDR. Aber wir müssen auch nüchtern sehen, daß wir unsere Kirchen mit dieser politischen Deutung etwas zu schnell aus ihrer Haftung für das Ereignis, das sie selbst verändern sollte, entlassen haben. Eine ausdrücklichen Rückbezug auf den konziliaren Prozess in den beteiligten Kirchen und Freikirchen gibt es heute nicht.

Es fällt auf, daß im Rückblick zehn Jahre danach genau diese säkular- politische Interpretation des Ereignisses in den Vordergrund rückt. Heino Falcke hat die Ökumenische Versammlung kürzlich "einen christlich motivierten zivilgesellschaftlichen Aufbruch in der Endphase der DDR" genannt, der die "Binnenkirchlichkeit" durchbrach (Publik Forum 7/99). Anders formuliert: die Ökumenische Versammlung war eine Art Durchlauferhitzer: rein in die Kirche, um möglichst schnell wieder raus auf die Straße zu kommen; höchste Konzentration auf zentrale Aussagen unseres Glaubens, um mit ihrer Hilfe zu erkennen, was die Stunde geschlagen hat. Darin lag die ökumenische Besonderheit dieser Versammlung. Der Versuch, kirchlich-ökumenische und zivilgesellschaftlich-globale Aufbrüche aufeinander zu beziehen und miteinander ins Gespräch zu bringen, scheint inzwischen überhaupt der einzig mögliche Weg zu sein, "konziliare Prozesse" zu organisieren und gesellschaftliche Veränderungen, "Wenden" oder "Umkehrbewegungen" zu ermöglichen. Wir erkennen im Rückblick deutlicher als 1989, daß die faktische Beerbung der ökumenischen Versammlung durch die Revolution des Herbstes 1989 die vielleicht glücklichste Form der Rezeption war, die ihr passieren konnte - sie hat unsere Kirchen vor der schmerzlichen Erkenntnis bewahrt, zu einer wirklichen konziliaren Erneuerung nicht fähig zu sein. Die Kirchen mußten den Check nicht einlösen, den wir ihnen im April 1989 ausgestellt haben. Selbst-Entäußerung der Ökumene als ihre eigentliche Aufgabe - das wäre dann ein Bedeutungs-Satz, der festzuhalten wäre.

Mit dieser etwas un-ökumenischen Interpretation der Ökumenischen Versammlung kommen wir einem Phänomen auf die Schliche, das uns 1988/89 immer wieder selbst erstaunt hat: Wie konnten 19 Kirchen und Freikirchen in der DDR gleichsam aus dem Stand zu einer gemeinsamen ökumenischen Initiative zusammenfinden, in der Gebet, Gottesdienst, theologische Vergewisserung, Situationsanalyse und konkrete Handlungsorientierung eine so organische Einheit bildeten? Wie war erklärbar, daß ausgerechnet sozialethische Fragen und Probleme, an denen die SED sonst mit Vorliebe ihre kirchlichen und konfessionellen "Differenzierungsstrategien" durchspielte, ins Zentrum einer lokalen ökumenischen Konsensbildung rücken konnten? Die Antwort lautet: weil die allgemeine gesellschaftliche Depression in der DDR so übermächtig geworden war, daß es "nur" dieses ökumenischen Funkens aus Vancouver (1983) und später aus Dresden (1987) bedurfte, um die Hoffnung auf Veränderung zum Laufen zu bringen. Die Ökumene stellte mit dem konziliaren Prozess eine Medizin zur Verfügung, die zu unserer gesellschaftlichen Krankheit paßte. Und die Ökumenische Versammlung war weder die Folge einer übergroßen Liebe der DDR-Kirchen zur weltweiten Ökumene noch das Produkt einer besonderen Zuneigung der ACK /DDR zum konziliaren Prozess. Sie war schlicht ein besonders gelungenes Beispiel für die Fähigkeit der DDR-Kirchen, Impulse der Ökumene als Vehikel gesellschaftlicher Veränderungen zu nutzen, eine globale ökumenische Inspiration in den Dienst einer lokalen Sache zu stellen. Im Ergebnis hatten wir beides: Ökumene als gemeinsames Zeugnis noch getrennter Kirchen und als Dienstleistung für eine Erneuerung der Gesellschaft in der Wahrheit. Dieses "Dresdener Doppel" empfinde ich nach wie vor als beispielhaft für ökumenische Prozesse überhaupt.

Im Aufruf "Eine Hoffnung lernt gehen" vom Sommer 1987 war die Rede davon, die Ökumenische Versammlung solle "im eigenen Haus" verwirklichen, war wir von einer ökumenischen Weltversammlung erwarten: "den Weg des Friedens gehen und ein Wort zu sagen, das uns bindet und verpflichtet und für die Welt ein Zeugnis unseres gemeinsamen Auftrages ist". Knapp zwei Jahre später hatten wir zwölf Ergebnistexte. Die ursprüngliche Erwartung, die sich an jenes eine Wort richtet, das binden, verpflichten und "die Welt" überzeugen sollte, mutet zehn Jahre danach reichlich monströs an. Wir sind bescheidener geworden und schon froh, wenn sich in den Kirchen heute Spuren von dem wiederfinden lassen, was die Versammlung mit ihren drei formulierten vorrangigen Verpflichtungen anstoßen wollte. Vielleicht ist deshalb das andere Bild vom "Weg des Friedens", der gemeinsam zu gehen ist, um so wichtiger - mehr im Sinne einer Fortwirkung als einer Fortführung des Ereignisses. Ich sehe in diesem Bild vom "Weg des Friedens" die Idee offener Lernprozesse in unseren Kirchen am Werk, die offensichtlich mehr Zeit brauchen, als wir uns 1988/89 vorgestellt haben. Als Beispiele für solche Prozesse möchte ich das Wort der beiden großen Kirchen "Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit" vom Februar 1997 und vor allem seinen breiten Diskussionsvorlauf werten; ebenso das im selben Jahr veröffentlichte wichtige gemeinsame Wort der Kirchen zu den Herausforderungen durch Migration und Flucht "...und der Fremdling, der in deinen Toren ist". Waren es in den Achtzigerjahren die Gruppen, die den Kirchen Beine machten, so sind es in den Neunzigern die Kirchen, die den Gruppen zeigen, daß sie dabei etwas gelernt haben. Wir sollte diese Beerbung begrüßen - auch wenn wir feststellen, daß sie die ursprünglich gemeinte Verpflichtung nur noch sehr abgeschwächt erkennbar werden läßt und daß die Freikirchen an diesen Prozessen bedauerlicherweise nicht beteiligt wurden und bis heute "außen vor" geblieben sind. Aber wichtig ist, daß es solche "konziliaren Prozesse" unter veränderten Bedingungen gibt, auch wenn sie nicht so heißen und nicht immer gleich als solche erkennbar sind.

Fällt der Positiv-Saldo für die Kirchen nach zehn Jahren Ökumenische Versammlung auch eher mager aus - in einem Punkt können wir von 1989 bis heute eine deutliche und konsequente Linie der positiven Umsetzung erkennen: Er betrifft die "Verpflichtung der Christen und Kirchen für einen ökumenischen Friedensdienst... (38). 1989 hatten wir formuliert, daß die eine Christenheit selber der "Leib des Schalom" werden muß. Männer und Frauen sollten daher als Glieder der Kirche "Hoffnungszeichen für die Einheit der Menschheit" werden. In Basel verpflichteten sich die europäischen Kirchen, "diesen aktiven Geist des Schalom auszubreiten" (79). In immer wieder neuen Ausprägungen zieht sich die Verpflichtung zu ökumenischen Schalomdiensten durch die Texte der nachfolgenden ökumenischen Weltversammlung in Seoul 1990 bis hin nach Graz 1997. Dort heißt es im Hintergrundmaterial zu den Handlungsempfehlungen: "... Nun ist es Zeit, daß die Kirchen auf der Basis der vorhandenen Erfahrungen Rahmenbedingungen schaffen, die die Ausbildung und Arbeit von Friedensmissionen (Peace Teams), Friedenfachdiensten (Peace Ministries) und Zivilen Friedensdiensten (Civil Peace Services) in breiterem Umfang ermöglichen" (B 39). Ganz in diesem Sinn hat die Synode der EKD bereits im November 1996 einen Beschluß "Zur Zukunft der christlichen Friedensdienste" verabschiedet, dem zufolge " die Entwicklung der Friedensfachdienste und die Aus- und Fortbildung für sie im Vordergrund stehen (sollen)". In der katholischen Kirche gibt es inzwischen auf der Ebene der Bischöflichen Kommission Justitia et Pax Ansätze, die in dieselbe Richtung zielen. Daß der konziliare Impuls zu ökumenischen Friedensdiensten eine so eindeutige Rezeption durch die Kirchen findet, zeigt zum einen den gewachsenen Bedarf an qualifizierten Friedensdiensten angesichts neuer Herausforderungen, aber auch die Bereitschaft der Kirchen, ihre Friedensarbeit aus dem Zentrum ihres Auftrags heraus zu "modernisieren". Mit dem "Ökumenischen Dienst im konziliaren Prozess" in Wethen ist in den letzten Jahren ein ökumenischer Träger entstanden, der Menschen auf diese neue Aufgabe vorbereitet und sie in ihren ganz unterschiedlichen Dienstprojekten begleitet. Ein kleiner, aber nicht zu unterschätzender Anfang. Es wäre allerdings dringend erforderlich, daß die Kirchen nicht nur das Anliegen der Friedensfachdienste bejahen, sondern in der Konsequenz ebenso klar die Aufgabe ihrer Finanzierung sicherstellen.

Die epochalen Herausforderungen, die in der Trias Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung zusammengefaßt sind, bestehen nach dem Epochenbruch 1989/90 unverändert fort und haben nichts an ihrer Dringlichkeit eingebüßt. Im Kosovo sterben, während wir uns hier versammeln, Menschen in einem schrecklichen Krieg. Unsere Fähigkeit, auf diesen Krieg in irgendeiner angemessenen Weise zu reagieren, ist beschämend gering, gemessen an der Deutlichkeit, mit der die Ökumenische Versammlung vor zehn Jahren als "Grundorientierung" die "vorrangige Option für die Gewaltfreiheit" (37) formuliert hat. Die Analyse, die dieser Option vorausging, besagte, daß die gewaltfreien Wege des Friedensdienstes in einer Situation des Übergangs von der Abschreckung mit Massenvernichtungsmitteln zu einem umfassenden System der politischen Friedenssicherung Vorrang haben müssen. Inzwischen ist Krieg wieder eine Realität, und wir wissen bisher kaum, wie die Überzeugung von der Vorrangigkeit der Gewaltfreiheit im Fall von ethno-nationalistischen Kriegen und Bürgerkriegen konkret bewahrheitet werden kann. Statt dessen erleben wir, daß der Krieg die bescheidenen Handlungsspielräume für gewaltfreie Wege brutal zunichte macht. Unsere Kirchen müssen deshalb viel entschiedener dafür eintreten, daß Instrumente und Prozeduren ziviler politischer Konfliktbearbeitung entwickelt, gefördert und ausgebaut werden, damit der Krieg überwindbar wird. Denn nur mit solchen gewaltfreien Instrumenten kann dauerhaft Frieden geschaffen werden. Die Konzentration der theologischen, ethischen und politischen Kompetenz unserer Kirchen auf das Ziel der positiven Ausgestaltung ziviler Konfliktbearbeitung ist allemal fruchtbarer als der Streit um Militäreinsätze; er könnte unsere Kirchen wahrlich als "Kirchen des Friedens" erweisen. Daß die Kirchen und wir alle damit dem Dilemma verfahrener Entscheidungsalternativen noch nicht entronnen sind und schuldig werden, bleibt ein bedrückender Teil des Problems der Rückkehr des Krieges als Mittel der Politik.