Zeit heilt nicht alle Wunden
01. Sep 2014
Heute vor 75 Jahren, am 1. September 1939, begann der Zweiten Weltkrieg. Immer wieder werden wir daran erinnert. Daher darf bei der Rückschau auf dieses Datum heute vorausgesetzt werden, dass die Fakten allgemein bekannt und in der bundesdeutschen Gesellschaft auch die Bewertung des Krieges als Angriffs- und Vernichtungskrieg eindeutig und mehrheitlich geteilt wird. Was aber kann für die jetzige und die zukünftigen Generationen das Wissen um die Gräuel des zweiten Weltkrieges und die Erinnerung daran bedeuten, welche Maßstäbe könnten sich aus der historischen Erfahrung für gegenwärtiges Handeln ergeben?
Der Zweite Weltkrieg war für fast alle europäischen Länder eine umfassende militärische Gewalterfahrung, die planmäßig umgesetzt wurde, die eine bewusste Ausbeutung der eroberten Gebiete vorsah und den Rahmen für die Massenvernichtung von Menschen vorgab. Inzwischen ist eine Erinnerungskultur entstanden, die bereit ist, die Opfer des Krieges und der Massenvernichtungen zu benennen und ihr Andenken lebendig zu halten. Dies war in der bundesdeutschen Gesellschaft nicht selbstverständlich und erforderte einen langen, auch in den Kirchen, konflikthaften Lernprozess. Die Erinnerung an die Opfer des Krieges war zu schmerzhaft. Als Täter wollte niemand dastehen. Somit standen Verdrängung und Rechtfertigung des eigenen Handelns im Vordergrund.
Vergebung und Versöhnung waren und sind auch heute noch große und notwendige Gesten. Eine frühe Einsicht nach Kriegsende war es zu sagen: Nie wieder Krieg! Nie sollte sich ein Krieg wiederholen, nicht in Europa und auch nicht unter den Ländern des asiatischen Kriegsschauplatzes. Dieser Grundimpuls, der auch zu vielen Lernprozessen und Schritten der Versöhnung der Deutschen mit ihren Nachbarn befähigte, ermöglichte zumindest in Europa einen bis jetzt bestehenden Frieden, der auch nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes gefestigt werden konnte. Erste Risse entstanden beim Jugoslawien-Krieg und sind nun auch beim Ukraine-Konflikt erkennbar.
Deutschland hat sich zum drittgrößten Rüstungsexporteur entwickelt. Der Ruf nach militärischen Lösungen von Konflikten in der Welt ist mittlerweile auch aus Deutschland deutlich vernehmbar. Gerade wenn von einer gewachsenen Verantwortung Deutschlands in der Welt immer häufiger und lauter gesprochen wird, sollte nicht darüber hinweggetäuscht werden, dass Deutschland zunehmend eigene geostrategische und wirtschaftliche Interessen – auch in Bündnissen – verfolgt. Die aktuelle Debatte um Waffenlieferungen in Kriegsgebiete des Nahen und Mittleren Ostens und der enorme Umfang deutscher Rüstungsexporte bedeuten eine Abkehr von der Politik nach dem Zweiten Weltkrieg, Konflikte nicht militärisch zu regeln. Die Lehre des letzten Jahrhunderts sollte sein, dass internationale Verantwortung in gemeinsamer Sicherheit und nicht in militärischen Einsätzen besteht.
Als internationale katholische Friedensorganisation pax christi treten wir ein für eine Kultur des Dialogs, der Versöhnung und der Vergebung, gerade weil wir selbst erfahren haben, was Vergebung und Versöhnung bedeuten.
Wir wissen, dass wir die Erinnerungskultur überdenken müssen, damit die Enkelgeneration teilhaben kann an den Erfahrungen, um den Satz „Nie wieder Krieg“ verstehen zu können. pax christi setzt sich dafür ein, dass dieser Satz nicht in der Erinnerung versinkt, sondern überall und immer bei Entscheidungen präsent ist, die ein Eingreifen fernab diplomatischer und dialogischer Lösungen mit militärischer Gewalt und dem Export von Waffen aus Deutschland ermöglichen sollen. Es kommt darauf an, die Option für zivile Konfliktbearbeitung und Gewaltverzicht aufrecht zu erhalten und stärker in den politischen Diskurs einzubringen.
Wie ein Drittel aller Deutschen so leiden immer noch Menschen aus anderen Völkern an den Folgen des II. Weltkrieges. Gerade deshalb müssen wir des Kriegsbeginns vor 75 Jahren erinnern. Wir müssen uns der schmerzhaften Erfahrung stellen, dass die Zeit eben nicht alle Wunden heilt.