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Karte Ostfront.jpgDeutscher Vormarsch bis Anfang Dezember 1941 und Frontverläufe / Copyright: Gdr at the English language Wikipedia

Entspannung neu denken

18. Jun 2020

Multiperspektivisch Versöhnungsarbeit entwickeln

Erklärung des pax christi-Bundesvorstandes zum 22. Juni 2020, dem 79. Jahrestag des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 

Nach den Gedenktagen zum 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz am 27. Januar und der Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus am 8. Mai erinnert pax christi an den Beginn des Angriffs- und Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion vor bald 80 Jahren, am 22. Juni 1941. Dieser Krieg setzte die Unterwerfungs- und Vernichtungspolitik des nationalsozialistischen Deutschland fort, die mit dem Überfall auf und der Besetzung Polens fast zwei Jahre vorher ihren Anfang genommen hatte. 

Besonders Belarus und die Ukraine sollten Kolonien des Deutschen Reiches werden, die dortige Bevölkerung wurde in erheblichem Umfang zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt, um die Kriegswirtschaft aufrecht erhalten zu können. Der Krieg wurde bewusst mit besonderer Brutalität geführt, der Umgang mit sowjetischen Kriegsgefangenen und der Zivilbevölkerung widersprach weithin völkerrechtlichen Grundsätzen und zielte auf deren Vernichtung ab. Die der Wehrmacht folgenden Einsatzgruppen der SS und in ihrem Gefolge Bataillone der Ordnungspolizei ermordeten in den ersten Monaten rund eine Million Menschen, die Mehrheit von ihnen waren Juden. Diese Radikalisierung der sogenannten Judenfrage führte in Konsequenz dazu, dass die in Polen errichteten Gettos für die jüdische Bevölkerung in der Folgezeit aufgelöst und nahezu weitere zwei Millionen Juden in Vernichtungslagern wie Belzec, Sobibor und Treblinka ermordet wurden. 

Die Erinnerung an dieses Datum ist Anlass und Herausforderung zu verstehen, dass es in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion verschiedene Perspektiven auf das gleiche Ereignis gibt. Der Weg in den Zweiten Weltkrieg wird in Weißrussland, der Ukraine und Russland inzwischen durchaus unterschiedlich wahrgenommen. Deutungen und Deutungshoheiten über die eigene wie andere Geschichte sind Teil gegenwärtiger Konflikte. Es gilt, deren Unterschiede und ihre jeweilige Bedeutsamkeit zu verstehen und die deutsche Verantwortung für diesen Krieg und die heute daraus folgenden Konsequenzen zu bedenken. 

Multiperspektivische Betrachtung

Nahezu acht Jahrzehnte nach diesem grausamen Krieg gegen die Sowjetunion erleben wir ein schwieriges Verhältnis Deutschlands und Europas zu Russland. Die Überwindung des Kalten Krieges hat keine politische Aussöhnung gebracht. Nach dem Wegfall der Systemkonfrontation von Kommunismus und Kapitalismus trennen heute andere politische und wirtschaftliche Konflikte zwischen der Europäischen Union und Russland den europäischen Kontinent, aber auch die EU und andere Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Der wichtige Ruf nach neuer Entspannungspolitik bedarf einer multilateralen Perspektive, die die unterschiedlichen Perspektiven der Erinnerung und des Umgangs mit der gewaltbelasteten Vergangenheit einbezieht. Ein neues Miteinander muss die aktuellen Fragen von demokratischer und autokratischer Politik genauso einbeziehen wie die Perspektive der Versöhnung alter und neuer Interessens- und Sicherheitskonflikte. Mit der folgenden Skizze will pax christi ein Jahr vor dem achtzigsten Jahrestag des Beginns des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion einen Beitrag zu einer multiperspektivischen Sicht auf die aktuelle Lage leisten. 

Die deutsche Perspektive:

Dass die Kriegsführung der deutschen Wehrmacht, vor allem der sie begleitenden Einsatzgruppen und Polizeieinheiten, vorsätzlich kriegsvölkerrechtliche Grundsätze aufgegeben hat, ist eine Tatsache. Auch wenn das von etlichen Deutschen in der Vergangenheit nicht immer akzeptiert war, so ist die Anerkennung dieser Fakten und der damit auch direkt verbundenen Frage einer besonderen Schuld eine wesentliche Voraussetzung für jede Verständigung mit dem heutigen Russland und mit anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Die Erfahrungen mit der deutschen Besatzung sind in diesen Ländern nicht vergessen. Diese Schuld ist bleibend anzuerkennen und kann nicht einfach mit dem Leiden Deutscher verrechnet werden. Die Empfindsamkeit für fremdes Leid ist die Voraussetzung für jede Möglichkeit der Vergebung und Versöhnung. Aus deutscher Perspektive kommt es darauf an, im kirchlichen wie politischen Handeln Beiträge zu Verständigung und Versöhnung zu leisten. Wege dazu können sein: an ein historisches Datum wie dieses oder andere zu erinnern, die Pflege bzw. der Besuch der Gräber von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter*innen, Begegnungsprojekte, Freiwilligendienste, Informations- und Studienfahrten, um ein oft als „weit entferntes Land“ besser wahrnehmen zu können. 

Russische und „postsowjetische“ Perspektiven:

Die heutige Russische Föderation, die baltischen Republiken, Polen, Belarus und die Ukraine teilen zwar die Erfahrung des Krieges, aber nicht ihre Deutung. Die ehemals offizielle sowjetische – und jetzt auch in Russland wieder verstärkt bemühte – Darstellung der Kriegsereignisse stellt vor allem den Erfolg des sogenannten Großen Vaterländischen Krieges 1941-1945 als Leistung der damaligen Sowjetunion, insbesondere der Roten Armee heraus. Die Sowjetunion hatte 26 Millionen Tote und ein von der deutschen Wehrmacht verbranntes und verwüstetes Land zu beklagen. In der Öffentlichkeit – auch bis in kleine Ortschaften – ist der Kriegsverlauf mit etlichen Denkmälern und Mahnmalen bis heute sehr präsent, die Selbstverständlichkeit des militärischen Handels, die Notwendigkeit der erfolgreichen Befreiung der eigenen Heimat und die großen Opfer, mit denen dieser Sieg errungen wurde, bilden das leitende Narrativ. Zunehmend wird es auch mit Trauer über den Verlust der einstigen Weltmachtrolle der Sowjetunion verbunden. Der 9. Mai ist der historische „Tag des Sieges“, der auch als Feiertag begangen wird und der nationalen Selbstvergewisserung dient. Diese nationale Interpretation der russischen Geschichte und die gesellschaftliche Anerkennung des Militärs gelten als selbstverständlich. Kritik an Rüstungsbestrebungen und ihren hohen Kosten erscheint unerwünscht, die belastenden Erfahrungen aus dem Afghanistankrieg sind weit entfernt und Kriegsdienstverweigerung findet kaum Anerkennung. 

Für die Russische Föderation ist Geopolitik – gerade auch nach dem Ende der alten Weltmachtrolle im Ost-West-Konflikt – wieder relevant, was sich am Griff zur Krim und an der militärischen Unterstützung Syriens zeigt. Aus diesen Fakten können durchaus sicherheitspolitische Szenarien abgeleitet werden, die aus westlicher Sicht beunruhigend wirken. Ebenso ist aber auch die Politik der Europäischen Union und der NATO-Mitglieder daraufhin zu befragen, wieweit sie einen Beitrag zur Stabilität leisten. Es kommt für alle darauf an, mit Russland Partner zu bleiben und nicht Feinde zu werden. Die historische Erfahrung ist eine bleibende Mahnung. 

Perspektiven der jetzt selbständigen Nachfolgestaaten der Sowjetunion und die Polens:

Alle diese Themen werden nun nach 1990 neu aufgegriffen und besonders in Polen und der Ukraine entstehen nationale Geschichtsbilder neu, die aus westlicher – eher bundesdeutscher Sicht – manchmal schwer verständlich sind und eine Verständigung nicht einfach machen. Das Erkennen und – zunächst auch Ertragen solcher sehr unterschiedlichen Perspektiven, die auch Aspekte von Schuld und Verantwortung verschieben – ist ein erster Schritt zur Versöhnung. Auf eine differenzierte Wahrnehmung ohne Rechtfertigungen kommt es sehr an. 

Neue Wege der Partnerschaft

Aus diesen verschiedenen Perspektiven und Bedingungen lassen sich Schritte für eine weitere europäische Politik bestimmen. Es ist eine neue Entspannungspolitik notwendig, die Sicherheit neu denkt, eine Sicherheit, die nicht auf militärische Stärke setzt. Eine Wirtschaftspartnerschaft mit den Ländern der ehemaligen Sowjetunion ist weiterzuentwickeln und die OSZE als Schlüsselorganisation für Krisenprävention und Konfliktbearbeitung ist zu stärken. 

Dabei kommt den Kirchen wie anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren eine wichtige Rolle zu. Sie können über Begegnungsarbeit das Feld bereiten, auf dem politische Kooperation gedeihen kann. 

pax christi strebt Austausch und Weiterarbeit an dieser multiperspektivischen Sicht als notwendigen Ausgangspunkt für das Erlernen neuer Wege der Partnerschaft an.

 

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