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Alltägliche Gewalt und Spannungen in der Westbank

22. Nov 2006

Die pax christi-Freiwillige Ursel Kamman berichtet über ihre Erfahrungen im Rahmen des Ökumenischen Begleitdienstes für Palästina und Israel. Ihr Bericht gibt einen Einblick in den Alltag der Menschen in der Westbank.

Im Rahmen des EAPPI Programms bin ich mit drei anderen EAs tätig in Yanoun, ca. 15 km östlich von Nablus. Die wichtigste Aufgabe ist, hier im Dorf Präsenz zu zeigen. Das Dorf hatte jahrelang unter den Angriffen von Siedlern sehr zu leiden, die hier einen Aussenposten der Siedlung Itamar gegründet haben. Die Bewohner hatten das Dorf im Oktober 2002 verlassen, gezwungen von den Siedlern. Unter dem Schutz israelischer und internationaler Gruppen kehrten die Bewohner zurück, seitdem sind ständig internationale Beobachter anwesend, seit 2003 ist das EAPPI Programm zuständig für das Dorf.

Wir gehen ausserdem regelmässig zu Checkpoints, z.B. Huwwara, kurz vor Nablus, besuchen die Kirchen in Nablus und Organisationen, die dort tätig sind, vor allem in Balata, dem grössten Flüchtlingskamp (ca. 22.000 Menschen leben dort auf 2 qkm), und haben jetzt viel bei der Olivenernte geholfen.

Hier im Dorf leben wir zwar spartanisch, jedoch idyllisch mit den Bewohnern und sind gern gesehen. Verlasen wir das Dorf, so erleben wir den Druck und die Spannung, die in der Westbank herrschen. Mein Empfinden ist, dass der Druck ständig zunimmt, anders gesagt, dass das israelische Militär den Druck ständig erhöht. Die Meldungen aus Gaza stehen ja nun auch wieder in der Weltpresse. Was wir hier ausserdem lesen sind die "kleinen" Meldungen aus der hiesigen Presse: ständig, fast jede Nacht, Überfälle in Nablus, besonders im Flüchtlingslager Balata oder im Camp Ain Beit Al Ma, immer Verhaftungen, häufig Tote, oft Frauen und Kinder. Die Begründung ist immer, dass Mitglieder einer terroristischen Vereinigung gesucht werden. In allen Städten der Westbank ist israelisches Militär unterwegs. Ständig werden Menschen verhaftet und getötet. Am 18.10.06 war eine Meldung in Ma'annews, dass die israelische Streitkräfte zwei Brüder im Alter von 12 und 7 Jahren verhaftet haben. Sie durchsuchten das Haus einer Familie, der Gesucht war der Vater Yaser Hanaysheh, und nahmen dann die beiden Kinder mit. So eine Durchsuchung bedeutet meist auch Zerstörung von Mobiliar und Verwüstung des Hauses.

Erfahrungen an einer Straßensperre

Am Sonntag, 5.11. 2006, waren wir mit unserem sehr zuverlässigen Fahrer unterwegs. Die Gegend war voller israelischer Militärfahrzeuge. Er kennt natürlich alle Schleichwege und fuhr uns dann nach Nablus. Wir kreuzten die Hauptverkehrsstrasse von Ramallah nach Jenin, sie war von Militärfahrzeugen blockiert, lange Autoschlangen hatten sich gebildet. Es hiess, es würde ein Verdächtiger gesucht.Wir fuhren zum Teil über Feldwege, um unser Ziel zu erreichen. Auf der Rückfahrt von Nablus bei Dunkelheit standen wir plötzlich einem israelischen Militärfahrzeug gegenüber, die Scheinwerfer voll aufgeblendet, die Strasse gesperrt. Unser Fahrer öffnete sein Fenster und rief hinüber, keine Antwort. Hinter uns bildete sich eine Schlange von Fahrzeugen. Der Fahrer rief nochmal, da stiegen zwei Soldaten aus dem Jeep, der eine maskiert mit dem Gewehr auf unser Fahrzeug gerichtet, der andere kam auf das Taxi zu, trat gegen den Reifen und brüllte auf den Fahrer ein. Die Botschaft war: zurück, die Strasse ist gesperrt. Unser Fahrer fragte etwas und der Soldat kam ans Fenster, beugte sich herein und rempelte den Fahrer wiederholt mit dem Gewicht seines Körpers an und beschimpfte ihn. Ich konnte zwar die Worte nicht verstehen, aber Gestik und Tonfall waren eindeutig. Der andere Soldat hob langsam sein Gewehr höher. Unser Fahrer drehte dann um und brachte uns, wieder über Feldwege, nach Hause. Er erzählte uns später, dass in der Nähe ein Dorf vom Militär durchsucht würde. Der Vorwurf lautete, die Bewohner hätten Schafwolle von einem Haufen genommen, der an der Strasse lag und den Israelis gehörte. Die Schafwolle wird hier von den Schäfern einfach liegen gelassen, weil es sich nicht lohnt, sie zu verarbeiten. So war es offensichtlich nur ein Vorwand, um die Dorfbewohner zu belästigen.

Checkpoint 300 – ein Nadelöhr

Am 3.11.2006 war ich bei der EAPPI Gruppe in Bethlehem zu Besuch und begleitete sie beim morgendlichen Besuch am Checkpoint 300 zwischen Bethlehem und Jerusalem - ein Beispiel für strukturelle Gewalt. Es ist eigentlich der grosse und offizielle Übergang zwischen den beiden Städten und sollte 24 Stunden geöffnet sein. Da er nur von Palästinensern mit einer Sondergenehmigung benutzt werden kann, die nur von 5 Uhr morgens bis 21 Uhr abends gilt, wird der Checkpoint auch erst ab 5 Uhr geöffnet. Als wir um 5 Uhr ankamen warteten etwa 200 Menschen. Erst nach mehreren Anrufen beim Checkpont Officer wurde um 5.25 aufgemacht. Die ganze Prozedur durch den Checkpoint dauert etwa zwei Stunden. Die Soldaten/innen sitzen hinter Panzerglas, Kommunikation nur über Lautsprecher, völlig anonym, und an diesem Morgen war besonders schlimm, dass eine der Soldatinnen nur durchs Mikrofon brüllte und die Menschen, die nur zur Arbeit wollen, herumkommandierte. Die Männer müssen den Gürtel aus der Hose nehmen, die Schuhe ausziehen und die Jacken - alles wird durchleuchtet. Durchsuchung eines Haues Am selben Morgen wurde in der Al Sar Strasse in Bethlehem ein Haus durchsucht, es ging um ein Mitglied der AlAqsa Brigades. Ca. 60 Soldaten und ein Bulldozer kamen, es wurde geschossen. Nach der Erstürmung des Hauses hörte man im Inneren drei Explosionen, das Haus wurde schwer beschädigt. Drei Menschen wurden getötet, der Gesuchte, eine Passantin und ein 17jähriger Junge. Das Haus wurde später zerstört. Als wir später am Nachmittg versuchten den Ort zu erreichen, konnten wir nicht in die Strasse, weil immer noch Militär da war. Wir konnten lediglich die Trümmer des Hauses sehen.

Demonstration gegen die Mauer

Wir waren vorher an der Strasse von Hebron nach Jerusalem beim Checkpoint Beit Jala. Auch dieser Checkpoint wird z.Zt. umgebaut zu einem grossen Terminal. An diesem Tag fand am Checkpoint eine Demostration gegen die Mauer statt, wegen deren Bau viele Bauern ihr Land nicht erreichen können um die Oliven zu ernten. Es gibt zwar eine Verfügung des High Court of Justice vom Juni 2006, die den Palästinensern Zugang zu ihrem Land und Schutz durch Polizei und Militär garantiert – doch diese wird nicht überall eingehalten. Der Demonstrationszug bestand aus ca. 40 Menschen, israelischen Friedensaktivisten, palästinensischen Bauern und Internationalen. Sie kamen mit Körben mit Oliven, Krügen mit Öl, der palästinensischen Fahne und Spruchbändern gegen die Mauer und den Landdiebstahl. In Höhe des Checkpoints wurden sie von Polizei umringt, die versuchte, den Zug zu stoppen, die Demonstranten versuchten weiterzugehen. Es wurde kein Tränengas eingesetzt, jedoch mit starker körperlicher Gewalt agiert. Die Polizisten, alle sehr gross, griffen sich zu vieren oder fünfen einen Teilnehmer, packten den Festgenommenen am Nacken und drückten ihn runter, die Arme wurden auf den Rücken gedreht, oder hielten ihn an Armen und Beinen und schleppten ihn weg. Die Festgenommenen wehrten sich, wurden jedoch unter Anwendung von körperlicher Gewalt jeweils in einen der Polizeiwagen "gestopft". Einer der Männer erlitt entweder einen Schock oder einen Herzanfall, nachdem seine Gegenwehr aufgehört hatte, liessen die Polizisten ihn einfach fallen und er blieb auf der Strasse liegen. Andere kümmerten sich um ihn; als jedoch die Ambulanz kam, umringten die Polizisten ihn und es sah aus, als ob sie verhindern wollten, dass er ins Krankenhaus kam. Nach einigem Gerangel und Protestrufen war es möglich, ihn abzutransportieren. Eine älterer Mann aus unserer Gruppe, so um die siebzig, ging auf einen der Polizisten zu und redete ärgerlich auf ihn ein, plötzlich lag der alte Mann auf dem Boden und der Polizist mit erhobenem Knüppel über ihm. Dadurch, dass eine junge Frau ihren Arm dazwischenhielt, verhinderte sie, dass der Polizist auf den Mann einschlagen konnte. Die ganze Aktion dauerte etwa eine Stunde, war begleitet von Protestrufen, die Oliven waren auf der Strasse verstreut, die Krüge zerbrochen. Mittlerweile war auch die Presse vertreten, u.a. das örtliche Fernsehen von Bethlehem. Soweit ich weiss, wurden vier oder fünf Teilnehmer verhaftet, einer davon Palästinenser. Ihm wurde vorgeworfen, dass er auf dem Weg Blumen an die Siedler verteilt hatte. Die Israelis sollen am nächsten Tag auf freien Fuss gesetzt worden sein, was mit dem palästinensischen Bauern geschehen ist, weiss ich nicht.

Olivenernte in Yanoun

Derweil verlief die Olivenernte im Dorf anscheinend ruhig. Während der ersten Tage tauchten häufig Militärfahrzeuge auf, auch sie zeigten Präsenz. Die Bauern ernteten auch die Oliven von den Bäumen, die höher am Hang und näher an der Siedlung stehen. Gestern mittag klopfte dann ein Nachbar an die Tür und bat uns, mit ihm zu kommen. Sein Onkel wollte auf sein Land, bat aber um Begleitung, weil er vor zwei Wochen von Siedlern bedroht worden war. Sie waren mit ihren Hunden den Hang herunter gekommen und hatten gedroht, ihn zu töten, wenn sie ihn nocheinmal dort sehen sollten. Also fuhren wir mit dorthin um die internationale Präsenz zu demonstrieren. Wir hoffen, dass es die Siedler davon abhält, weiter Schwierigkeiten zu machen, weil sie doch fürchten dass dies dann öffentlich berichtet wird. So leben wir hier täglich im Zwiespalt der trügerischen ländlichen Idylle und dem Bewusstsein der bedrohlichen Situation von aussen, obwohl wir durch unseren Status als Internationale relativ geschützt sind. Ich selbst bin betroffen davon, wie schnell ich mich an die ständige Gegenwart von Militär gewöhnt habe.

Ursel Kammann, EAPPI Team
Yanoun 17. November 2006

Der Bericht gibt die Meinung der Freiwilligen und nicht notwendigerweise die von pax christi bzw. dem ÖFPI-Programm wieder.