Militärische Sackgasse in Afghanistan?!
22. Jan 2008
Herbert Sahlmann (Bonn)Konkrete Vorschläge für die neue Strategie zur Befriedung und Entwicklung Afghanistans. Ein 20-Punkte-Programm für Dialog statt Krieg
1. Um die Glaubwürdigkeit des Westens bei der Unterstützung Afghanistans wieder herzustellen, sollte die Operation Enduring Freedom (OEF) so schnell wie möglich eingestellt und ein Zeitplan aufgestellt werden, nach dem die NATO-Truppen und das ISAF-Kommando - mit einem neuen Mandat des Weltsicherheitsrates versehen - UNO-Offizieren unterstellt werden.
2. Dazu dürfen die Mandate für OEF, für die Einsätze der deutschen Tornados und für die KSK im Herbst 2008 vom deutschen Bundestag nicht verlängert werden.
3. Der Schwerpunkt der deutschen und internationalen Unterstützung Afghanistans wäre zugleich von militärischen zu zivilen Maßnahmen zu verlagern. Wenn der Mitteleinsatz bisher bei etwa 80 : 20 für Militär- zu Zivilleistungen lag, muss dieses Verhältnis in Zukunft mindestens bei 50 : 50 liegen. Das Militär würde schrittweise reduziert und sich vor allem auf Ausbildungs- und rein defensive Schutzmaßnahmen konzentrieren mit einer Verlagerung personeller und finanzieller Ressourcen von der militärischen zur Entwicklungs-Seite.
4. Die ausländische Unterstützung für die Ausbildung und Ausstattung von gesetzestreuer Polizei und Justiz muss erheblich ausgeweitet werden, ebenso der Ausbau der physischen und sozialen Infrastruktur, damit die Afghanen auch in der Fläche erfahren, dass sie wieder eine Entwicklungschance bekommen.
5. Die zivile Nothilfe und Entwicklungszusammenarbeit sollte uneigennütziger als bisher und vorrangig im Süden und Osten des Landes eingesetzt werden. Das erscheint unter Sicherheitsgesichtspunkten dann möglich, wenn lokale traditionelle Machtverhältnisse und kulturelle Besonderheiten beachtet werden und die Unterstützung vorwiegend über lokale Strukturen abgestimmt abgewickelt wird. Dann wird sie von der Bevölkerung ausdrücklich gewünscht und mitgetragen.
6. Da eine Liaison der Entwicklungsfachkräfte mit dem ausländischen Militär die Sicherheit der Fachkräfte eher gefährdet, jedenfalls soweit, wie das Militär von der afghanischen Bevölkerung als Besatzungsmacht empfunden wird, sollte auch das Militär im Interesse einer guten Gesamtentwicklung eine solche Liaison nicht anstreben.
7. Das Gefühl der militärischen Besetzung muss der afghanischen Bevölkerung wieder genommen werden durch Entwicklung und Umsetzung einer klaren Exit-Strategie.
8. Dialog statt Gewalt muss soweit als möglich auch für Militär und Polizei immer gelten!
9. Der Dialog mit den gemäßigten Taliban sollte gesucht werden. Sie sind auf lokaler Ebene und später auch auf nationaler Ebene in die Entwicklungs- und Sicherheitsverantwortung für das Land einzubinden. Es gibt gute Beispiele dafür, wie Entwicklung und Sicherheit auf lokaler Ebene - mit lokalen Taliban-Führern abgestimmt - vorangebracht werden können.
10. Der Aufbau lokaler staatlicher und zivilgesellschaftlicher Strukturen kann im Einvernehmen mit und unter Nutzung von lokalen Kräften intensiv vorangebracht werden. Die Bevölkerung muss spüren, dass es eine Sicherheits- und Entwicklungsperspektive gibt, in die sie eingebunden ist und an der sie mitwirken soll und kann. Dazu ist es ganz wichtig für die Stimmung in der afghanischen Bevölkerung, dass alle Entwicklungsbeiträge von außen viel stärker afghanisiert werden, d.h. von Afghanen geplant, verantwortet und realisiert werden.
11. Der Westen und insbesondere das Militär dürfen bei der afghanischen Bevölkerung keine Erwartungen wecken, die nicht erfüllt werden können.
12. Sehr wichtig ist auch für die neue Strategie, dass die Bevölkerung landesweit besser unterrichtet wird über Sicherheits- und Entwicklungsziele und sie realistische Informationen erhält, welche konkreten Maßnahmen in den einzelnen Distrikten geplant sind und welche Beiträge dazu von der lokalen Bevölkerung erwartet werden.
13. Ländliche Räume sollten in Afghanistan stärker als bisher gefördert werden, denn dort lebt die Mehrheit der Bevölkerung. Dabei könnten zunächst die Nothilfe und die EZ an lokalen Fähigkeiten und Strukturen ansetzen und vor Ort nach den dortigen Bedürfnissen personelle Kapazitäten für die weitere Entwicklung aufbauen. Dabei sollte die Armutsbekämpfung mit Ernährungssicherungs-, Grundbildungs-, Basisgesundheits- und Beschäftigungsprogrammen im Vordergrund stehen.
14. Der Aufbau lokaler Strukturen ist bedeutend, weil nur über sie nachhaltig in Afghanistan eine Staatlichkeit mit Gesetz und Ordnung geschaffen werden kann. Denn es hat bisher in Afghanistan, zumindest nicht in seiner neueren Geschichte, eine Zentralgewalt gegeben, die das ganze Land beherrscht hat. Eine solche Struktur kann schon gar nicht von außen den Afghanen aufgezwungen werden, sondern sie könnte nur im Laufe von Generationen wachsen. Ein stärker föderales Staatswesen wäre in Afghanistan wohl eher in der Lage, Frieden und Entwicklung voranzubringen, als ein zentralistisches, wie es zur Zeit angestrebt wird.
15. Die Stärkung der kulturellen Identität einschließlich des nicht militanten Islam ist zur Stabilisierung des Landes wichtig.
16. Zur Stabilisierung Afghanistans ist es ferner dringend geboten, die Drogenbekämpfung entsprechend der inzwischen dafür von afghanischer Seite mit UNO-Unterstützung entwickelten Strategie umzustellen. Dabei hat der Anbau von Alternativen zum Mohn Vorrang vor der Zerstörung von Mohnfeldern. Die Zucht von Rosen und ihre Weiterverarbeitung zu Rosenöl, der Anbau von Medizinpflanzen oder die Anlage von Obstgärten können bei den Bauern zu auskömmlichen und vor allem sichereren Erträgen als der Mohnanbau führen. Die Vernichtung von Mohnfeldern trifft in erster Linie die Kleinbauern und die Landlosen, die in ihrer Existenz gefährdet werden. Eine Lizenzierung des Mohnanbaus würde einen bedeutenden Teil der Opiumproduktion aus dem illegalen Heroinhandel nehmen und dem kontrollierten Handel mit Morphinen und Kodeinen zuführen. Strenge dörfliche traditionelle Kontrollmechanismen könnten genutzt werden, um Vertrauen zur staatlichen Gewalt wieder aufzubauen. Ganz wichtig bei der Bekämpfung der Drogenwirtschaft sind die Verhinderung der Weiterverarbeitung des Rohopiums und die Kontrolle der Verkehrswege zur Unterbindung des illegalen Handels mit Opiaten. Dazu sind der Ausbau der regionalen Zusammenarbeit Afghanistans mit seinen Nachbarn und der Aufbau einer korruptionsfreien Grenzpolizei zur Grenzsicherung ganz wichtig. So lange eine solche Polizei nicht existiert, ist das Militär gefordert, diese bei ihren Aufgaben zu unterstützen.
17. Eine angemessen besoldete Polizei, die dem afghanischen Recht und Gesetz verpflichtet ist, sollte noch vorrangig vor einem der Zentralgewalt unterstellten verfassungstreuen Militär ausgebildet und aufgestellt werden. Dazu können und müssen die Bundesrepublik Deutschland und zwar nicht nur der Bund, sondern entsprechend der Zuständigkeit für die Polizei in Deutschland, vor allem die Bundesländer personell erheblich mehr beitragen. Die in Afghanistan benötigten 60.000 Polizisten können nicht von 40 deutschen Polizeibeamten in angemessener Zeit gut ausgebildet werden! Die für Ausbildung und Ausrüstung der afghanischen Polizei 2007 geschaffene EUPOL hat bisher leider noch keine Früchte getragen!
18. Solange die afghanischen Staatseinnahmen nicht ausreichen, um die Verwaltungsbeamten, Polizisten, Richter und Militärs angemessen zu bezahlen, muss der Westen die Mittel dafür bereitstellen und der afghanischen Regierung helfen, mittelfristig ein Steuer- und Abgabensystem aufzubauen, das die notwendigen Staatseinnahmen ermöglicht.
19. Da, wo die afghanischen staatlichen Stellen ihre Aufgaben noch nicht angemessen wahrnehmen können, sollten diese von den UNO-Organisationen (UNAMA) unterstützt werden. Afghanische Regierung und UNAMA sollten intensiv mit der Organisation Islamischer Staaten (OIC) zusammenarbeiten.
20. Erste Ansätze einer regionalen Sicherheits- und Entwicklungszusammenarbeit sollten intensiviert werden und bald in einer regionalen Konferenz für Sicherheit und Entwicklung münden. Denn auch die Nachbarländer Afghanistans sind durch den drohenden Zerfall des afghanischen Staatswesens und die ausufernde afghanische Drogenwirtschaft gesellschaftlich im Kern bedroht!
Zusammen mit zivilgesellschaftlichen und politischen europäischen Partnern hat Deutschland eine gute Chance, einen Strategiewechsel in der westlichen Sicherheits- und Entwicklungspolitik gegenüber Afghanistan einzuläuten, wenn vorbereitet und unterstützt von der deutschen Friedensbewegung und anderen gesellschaftlichen Kräften das Bundeskabinett und der Deutscher Bundestag die wichtigsten Elemente der oben skizzierten neuen Strategie bei der im Herbst 2008 anstehenden Verlängerung der Mandate für das deutsche Gesamtengagement in Afghanistan mutig und entschlossen aufnehmen.
Anmerkung:
Begründungen und Elemente einer solchen neuen Strategie Deutschlands und dann des Westens für die Sicherheit und Entwicklung in Afghanistan finden sich u. a. auch in der Senlis-Studie, bei Galtung und in der Klingebiel et altera Studie, die übrigens auch Interaktionen mit nichtstaatlichen Akteuren der Gewalt empfiehlt.