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(K)Ein ganz normaler Tag - Bericht aus Jayyous, einem Dorf in Palästina

08. Jul 2007

Ursel Kammann ist als pax christi-Freiwillige im Ökumenischen Begleitprogramm für Palästina und Israel (ÖFPI). Durch den Bau des „Sicherheitszaunes“ im Jahr 2003 hat das Dorf Jayyous 75% seines Farmlandes verloren, der Zaun verläuft 6 km innerhalb der grünen Linie. 60 % der Bauern dürfen ihr Land betreten, 40 % haben keine Genehmigung erhalten. Di…

Heute Morgen hatte ich „Dienst“ am Nordtor von Jayyous, einem der beiden Tore, die die Farmer mit einer speziellen Erlaubnis benutzen dürfen, um auf ihrem Land zu arbeiten. Für mich heißt es kurz nach 5 h aufstehen um nach einem Fußweg von 15 min. um 5.45 am Tor zu sein, das bis 7.15 h geöffnet ist.
Heute tut eine neue Einheit Dienst, vier Reservisten, die für drei bis vier Wochen diesem Tor zugewiesen sind. Sie kommen ohne besondere Vorbereitung und man sieht ihnen manchmal an, wie unsicher sie sind, häufig haben sie dann das Gewehr ständig schussbereit.
Die Soldaten heute sind ziemlich entspannt, sie haben zwar die Gewehre auch schussbereit, fertigen die Farmer und Farmarbeiter jedoch zügig ab. Das heißt, die IDs (Ausweise) und die besondere Erlaubnis werden geprüft, die Nummern registriert, weil am Abend überprüft wird, ob auch alle wieder zurückgekommen sind. Auf dem Farmland zu übernachten ist streng verboten und kostet zumindest die Erlaubnis. Die Farmer kommen auf Eseln, mit Eselskarren, mit Traktoren, die bei uns als Oldtimer wertvoll wären, zu Fuß, Männer, einige Frauen und Kinder. Die Kontrolle ist einfach diesmal, sie müssen ihre Verpflegungspakete nicht öffnen, keiner schaut in den Motorraum oder unter die Fahrzeuge.
Ich habe mir vorgenommen, mit so vielen Soldaten wie möglich zu sprechen um mehr darüber zu erfahren, wie sie denken. Die heute sind nicht besonders am Gespräch interessiert, vielleicht wird es nach ein paar Tagen anders, vielleicht entsteht Vertrauen.

Auf dem Rückweg spreche ich noch mit Muhammad, einem Ladenbesitzer, der leidlich Englisch spricht. Wie immer sitzt er vor seinem Laden und wartet auf die spärlichen Kunden. Er ist einer von denen, die ihr Land nicht mehr betreten dürfen. Darum hat er seinen kleinen Laden eröffnet. Er erzählt mir, dass er vier Söhne und eine Tochter hat und nicht das Geld, um ihnen Kleidung zu kaufen, schon gar nicht, um sie studieren zu lassen. Bildung hat einen hohen Stellenwert in Palästina und ist das einzige, das Eltern ihren Kindern mitgeben können. Seine Kunden können meist nicht mehr bezahlen, seit kein Geld mehr in die Westbank fließt. Seit fast zwölf Monaten haben Staatsbedienstete nur teilweise oder gar keine Gehälter mehr bekommen, sie lassen anschreiben. Er kann seine Lieferungen nicht mehr bezahlen. Er leidet sichtlich darunter, dass er seinen Kindern nicht das zukommen lassen kann, was ein guter Vater zu tun hat. Immer wieder fährt er sich mit der Hand über den Kopf.
Seine Tochter möchte ab August studieren, die Semestergebühren betragen 7.200 Shekel, er hat das Geld einfach nicht. „Ich bin von morgens um sechs bis abends um elf im Laden,“ sagt er, „und wenn ich nach Hause komme und alleine bin, dann weine ich. Ich kann meinen Kindern nichts geben, nicht einmal neue Jeans kann ich ihnen kaufen. Ich wünsche, ich könnte sterben.“ Ich sage ihm, dass ich glaube, er ist ein guter Vater, es tröstet ihn nicht. Er quält sich, weil er ihnen nicht mehr ermöglichen kann. Väter verwöhnen ihre Kinder. Ihn quält auch die Ungewissheit über sein Schicksal.
Das Gespenst des Transfers, die Ausweisung der palästinensischen Bevölkerung, bedroht ihn. „Wir wissen nicht, was die Israelis mit uns machen. Ich bin hier geboren, es ist mein Land, und ich darf nicht hingehen,“ klagt er. „Wenn ich von hier weg muss habe ich gar nichts mehr, kein Haus, kein Land, kein Geld. Wen das geschieht, dann wünsche ich mir, dass die Soldaten mich erschießen und ich sterben kann, hier in meinem Haus, mit meiner Familie.“ Und dann steht er auf und geht in den Laden und ich sehe, dass er Tränen in den Augen hat.

Gegen Mittag erwarten wir Besuch, ein Projektteam mit einem Kameramann hat sich angemeldet. Sie wollen einen Film drehen über eine Beduinenfamilie. Deren Haus ist durch den Zaun vom Dorf abgetrennt und liegt nun in israelischem Gebiet. Die Familie kann nur zu den festgelegten Öffnungszeiten des Südtores, dreimal am Tag 15 min., in das Dorf und zurück. Schulbesuch, Arztbesuche, Einkaufen - alles ist durch die Öffnungszeiten bestimmt. Sie können morgens ins Dorf und mittags oder abends zurück. Die Teammitglieder sind Palästinenser, der Kameramann, Alexi, ist Engländer, hat einen Presseausweis und die Erlaubnis, sich überall frei zu bewegen. Die Familie ist informiert.
Wir gehen zum Tor, das von 13.45 Uhr bis 14.00 Uhr geöffnet wird. Dort treffen wir den ältesten Sohn der Familie auf „unserer“ Seite des Zaunes und gehen mit ihm zu einer kleinen Anhöhe, von dort aus kann man das Haus auf der anderen Seite sehen. Als die Soldaten kommen und das Tor öffnen, erklären wir Ihnen worum es geht. Alexi fragt, ob er filmen darf und erhält die Erlaubnis. Dann beginnen die Verhandlungen.
Wir EAs hoffen, bei dieser Gelegenheit auch einmal auf die andere Seite des Zaunes zu kommen, außerdem wäre es gut, wenn einer der Palästinenser als Übersetzer mitgehen könnte. Die Soldaten sind höflich, einer unterhält sich sehr interessiert mit uns, sie telefonieren und wir erfahren, dass der Einsatzleiter kommen wird, um den Fall zu prüfen. Er kommt an, kurz bevor das Tor wieder geschlossen wird. Er ist ausnehmend höflich, teilt uns jedoch mit, dass wir alle nicht hinüber dürfen, Alexi müsse seinen Fall mit der vorgesetzten Militärbehörde koordinieren, er wäre bereit, solange mit dem Schließen des Tores zu warten. Presseausweis, besondere Genehmigung und internationaler Pass nützen nichts. Alexi erfährt, dass er seinen Besuch mit der Pressestelle in Jerusalem absprechen muss, heute kommt er auf keinen Fall hinüber. Während wir warten werden wir aufgefordert, das Gebiet des Tores zu verlassen. Dann wird das Tor von den Soldaten geschlossen und gesichert. Alexi ist derjenige, der am wenigsten betroffen ist, während wir alle ziemlich betrübt im Schatten eines Olivenbaumes sitzen.
So ist das eben, keiner trifft eine Entscheidung, jeder verweist einen an den nächsten und am Ende kriegt man eine Absage von einem Unbekannten am Telefon. Die Militärgewalt hat kein Gesicht und wir erleben unsere Machtlosigkeit.

Jayyous, Juli 2007