pax christi trauert um Gisela Wiese
30. Apr 2010
Mit Gisela Wiese verliert die deutsche Sektion der internationalen katholischen Friedensbewegung pax christi eine ihrer herausragenden Persönlichkeiten der letzten Jahrzehnte. Gisela Wiese prägte die pax christi Bewegung insbesondere in den Jahren zwischen 1980 und 2000 als Mitglied der Hamburger Basisgruppen, deren Gründerin sie war, als Mitglied des Präsidiums, in das sie 1983 gewählt wurde und schließlich als Vizepräsidentin von 1990 bis 2000. Darüber hinaus war sie bis zu Ihren Tod im Sprecherteam der Regionalstelle Osnabrück Hamburg der pax christi Bewegung aktiv.
Begegnung war das Schlüsselwort ihres Friedensengagements. Nur aus der tatsächlichen Begegnung mit den Anderen konnte für Gisela Wiese Frieden wachsen. Sie lebte diese Form der Begegnung im Kontakt mit den Menschen, und sie verstand es, diese Begegnung in politisches Handeln zu übersetzen. Als es in den 1960/70er Jahren in Hamburg die Prozesse gegen NS-Kriegsverbrecher gab, begleitete sie die Überlebenden der Shoa, die als Zeugen in den Prozessen auftraten. Sie stand ihnen bei und stützte sie besonders in dem Moment, als eine juristische Beweisaufnahme die Glaubwürdigkeit der Zeuginnen und Zeugen der Shoa in Zweifel zu ziehen suchte. In gleicher Weise besuchte sie Gefangene der RAF im Gefängnis und bot ihnen und anderen Gefangenen durch Gespräch und Begegnung Hilfe an, einen Weg zurück in die Gesellschaft zu finden. Sie hielt an dieser Solidarität zu den Menschen auch dann fest, wenn Kontaktaufnahmen aus politischen Gründen erschwert wurden.
Gisela Wiese konnte so handeln, weil sie selbst Opfer von Gewalt und Krieg und Zeitzeugin des Nationalsozialismus war. Geboren 1924 und aufgewachsen in Berlin erlebte sie als Kind die Verfolgung und Verhaftung engster Familienangehöriger und wurde in den letzten Kriegsmonaten zum willfährigen Objekt kriegerischer Gewalt. Trotz dieser Kriegs- und Gewalterfahrungen fand Gisela Wiese einen Weg, Ja zum Leben zu sagen. Ihre große Hoffnung waren die Kinder, die sie als gelernte Erzieherin jahrzehntelang die Ehrfurcht vor dem Leben und die Abkehr von Gewalt lehrte.
Gelingendes Leben war für Gisela Wiese nur dort möglich, wo die Erinnerung an geschehenes Leid gegenwärtig bleibt. So prägte sie in pax christi das Gedenken an die Shoa nachhaltig. Wiederholt begleitete sie Gruppen in das Konzentrationslager Auschwitz, besuchte als Zeitzeugin Schulen und trat entschieden gegen eine falsche Versöhnungsperspektive auf, die das unabgegoltene Leid der Opfer zu relativieren drohte. Aus dieser Haltung heraus war sie schon in der 80er Jahren dem vergessenen Unrecht an den Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern auf der Spur und reklamierte lange bevor es zu den späten Entschädigungen kam, den überfälligen Handlungsbedarf von Staat und Kirche.
Die Shoa war für Gisela Wiese der Zivilisationsbruch der modernen Gesellschaft, gegenüber der Sprache versagt, der Schrei aber nicht stumm bleiben darf. Aus diesem scheinbaren Dilemma führte nach ihrer Überzeugung die Begegnung mit dem Anderen. Hören, wo Zeugenschaft notwendig wird, Aufschreien dort, wo Menschen Unrecht widerfährt und Schweigen dort, wo Worte das Unfassbare der Shoa nicht zu fassen vermögen. Solche Art Begegnung prägte ihr Engagement für Frieden und Versöhnung. Gisela Wiese ging es stets um den Dienst an Menschen, die für sie immer konkrete Personen mit einem Namen und einer Geschichte waren. In politischen Debatten fragte sie, was diese Überlegungen für diesen oder jenen Menschen bedeuten, dessen Schicksal sie berührt hat und auf den hin sie sich eingelassen hat.
Die Erfahrung des Völkermordes in Srebrenica 1995 hat sie deshalb bis zu ihrem Tode besonders geschmerzt, weil der Schutz der Menschen für sie höchste Bedeutung hatte, ihr aber nur die Mittel der Gewalt blieben, die wiederum nicht in der Lage waren, das Morden zu verhindern.
Gisela Wiese ging es in ihrem Engagement für Frieden und Gerechtigkeit um die Menschen, die nach dem Abbild Gottes geschaffen sind, auch wenn sie gering geschätzt, missachtet, verfolgt, ihrer Rechte beraubt, gefoltert oder mit dem Tode bedroht werden. Jeder dieser Menschen hat bei Gott einen Namen. So sollte es auch bei uns sein. Dafür trat Gisela Wiese unermüdlich ein. So wuchs durch ihr Handeln Frieden als Frucht der Begegnung.
Wir sind dankbar für die Begegnung mit Gisela Wiese. Die Erinnerung an ihr Wirken ist uns Aufgabe und Verpflichtung zugleich, die Arbeit am Frieden in ihrem Geiste fortzusetzen. Alles wirkliche Leben ist Begegnung. Mit diesen Worten Martin Bubers hat sie sich zum Ende ihrer Vizepräsidentschaft von der Bewegung verabschiedet. Mit ihr hoffen wir auf ihre Begegnung mit Gott, dem Herrn über Leben und Tod.
Berlin, den 30. April 2010