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Syrien: Über Gewalt hinaus denken

10. Sep 2013

Erklärung des Präsidiums der deutschen pax christi-Sektion zur aktuellen Kriegsgefahr in Syrien Verzweifelt rufen Menschen in Syrien nach Solidarität und einem Ende der Gewalt. Die katholische Friedensbewegung pax christi ist in großer Sorge um eine friedliche Zukunft des Landes. Unser Schmerz über die Toten, mittlerweile vermutlich rund 90.000 Me…

Demokratiebewegung: Wie in den anderen arabischen Ländern bewundern wir den Mut der politischen Emanzipationsbewegung in Syrien. Sie will das herrschende repressive Regime in Richtung Menschenrechte und Bürgerbeteiligung ändern. Die Demokratiebewegung in Syrien hat eine lange Tradition. Viele ihrer Vertreter mussten dieses Engagement mit schwerer Haft, Folter und sogar mit dem Tod bezahlen. Dieser zivile und gewaltlose Protest der Demokratiebewegung, die es immer noch gibt, ist heute fast völlig überschattet von den gewaltsamen Auseinandersetzungen.

Bürgerkrieg: In zahlreichen Orten und Gegenden in Syrien kommt es zu Kämpfen zwischen Militär und bewaffneten Gegnern des Regimes. Zu ihnen gehören sunnitische und kurdische, aber auch Al Quaida nahestehende Milizen, die partikulare Interessen verfolgen. Mit Bombardements aus der Luft richtet die Armee in den sogenannten „befreiten Gebieten“ Verwüstungen an. Die Zivilbevölkerung sieht sich einem Bürgerkrieg ausgesetzt, den sie nicht stoppen kann. Zur Destabilisierung des Landes tragen auch Gefangennahmen, Folter und Entführungen bei, wie jene von zwei Bischöfen der orthodoxen Kirche im Juni 2013. In großer Angst vor Chaos und Genozid suchen die Menschen Schutz bei den bürgerkriegsbeteiligten Parteien und immer zahlreicher als Flüchtlinge in den Nachbarländern.

Stellvertreterkrieg: Dieser Bürgerkrieg ist auch ein internationaler Stellvertreterkrieg. Syrien, als enger Verbündeter von Iran und der Hisbollah im Libanon, bildet eine Front gegen das Hegemonialstreben von Saudi-Arabien und Katar. Vertreter der Muslimbrüder haben zu einem Dschihad gegen das syrische Regime aufgerufen. Kämpfer aus vielen Ländern sind diesem Aufruf gefolgt. Unter den Terroristen in Syrien sind mittlerweile auch Al-Quaida-Milizen. Eigene Interessen verfolgen auch die Nachbarländer Israel und die Türkei. Letzteres hat sich bereits der Nato-Bündnissolidarität durch Patriot-Raketen versichert. Während die Nato-Staaten als „Freunde Syriens“ das Oppositionsbündnis militärisch und diplomatisch stärken und strenge Sanktionen über Syrien und die Herrscherfamilie verhängt haben, unterstützt Russland das syrische Regime. Die UNO hat mit Lakhtar Ibrahimi einen Sonderbeauftragten für Syrien ernannt, der die unterschiedlichen Interessen bündeln soll.

Unsere Bewertung: Die UN-Untersuchung über Giftgasopfer ist noch im Gange und ihr Ergebnis muss abgewartet werden. So sehr wir dieses Verbrechen verurteilen, muss geklärt werden, wer dafür verantwortlich ist. Eine willkürliche sog „Strafaktion“ wie sie vor allem die USA, Frankreich und die Türkei planen, wäre selbst ein Bruch des internationalen Rechts und eine weitere Eskalationsstufe in diesem schrecklichen Krieg. Jede – auch ansatzweise – Bereitschaft der syrischen Regierung zur Offenlegung ihrer Chemiewaffenbestände ist als ein Schritt zu Verhandlungen ernst zu nehmen.

Der externe Faktor spielt eine bedeutende Rolle im syrischen Bürgerkrieg. Ohne eine Einigung von Russland und den USA über die Zukunft Syriens wird sich auch keine Einigung im Land selber erzielen lassen.

Indem der Druck auf Hizbollah (Einstufung als terroristische Vereinigung in der EU) und auf den Iran (weitere Sanktionen wegen des Atomprogramms) verstärkt wird, werden diese beiden Verbündeten Syriens weiterhin aus einer gemeinsamen Lösung ferngehalten.

Verfolgen die Türkei und Israel ihre jeweiligen Interessen, etwa Militärangriffe auf das syrische Staatsgebiet, weiterhin, kann dies zu unkalkulierbaren Eskalationen in der Region führen.

Insbesondere die Unterstützung militanter Islamisten in Syrien durch Saudi Arabien und Katar trägt massiv dazu bei, dass der Krieg in Syrien als Religionskrieg geführt wird und, ähnlich wie im Irak, in Konfessionalismus und Staatszerfall führt.

Kommt es tatsächlich zum Sturz des Assad-Regimes ist unklar, wie danach das Land stabilisiert werden soll und weitere Gewalt und das Übergreifen von Gewalt auf Nachbarstaaten verhindert werden kann.

Bereits einmal hat ein UN-Vermittler (Kofi Annan) aufgegeben, weil er sich nicht genügend durch die internationale Gemeinschaft unterstützt sah. Nach wie vor ist die Unterstützung für eine UN-Vermittlung ungenügend.

Weitere Waffenlieferungen, militärische Ausbildung und sonstige Militärhilfe an das Regime und an die Gegner des Regimes lassen den Konflikt weiter eskalieren.

Die Aufnahme syrischer Flüchtlinge in den Ländern Libanon, Türkei, Irak, Jordanien und zunehmend auch in Ägypten, ist eine äußerst großzügige beispielhafte humanitäre Geste und fordert andere Staaten heraus, Ähnliches zu leisten. Dies muss auch geschehen, denn die Aufnahmebereitschaft der Nachbarstaaten droht zu kippen.

Unsere Forderungen an die deutsche Politik: 

Militäreinsatz verweigern: Selbst ein begrenzter Militäreinsatz (z.B. Errichtung einer Flugverbots- oder Pufferzone oder lokale Bombardierung) könnte in eine unkalkulierbare Eskalation führen, mehr Staaten in die Gewalt involvieren und die Sicherheit von Nachbarstaaten gefährden. Dies gilt auch für einen Einsatz der deutschen Patriot-Raketen in der Türkei an der Grenze zu Syrien. Deshalb muss die deutsche Politik weiterhin auf Diplomatie setzen. Dazu gehören viele kleinere Schritte, die eine Annäherung schaffen könnten. Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, die Patriot-Raketen an der Grenze zu Syrien abzuziehen.

Keine Kriegsbeteiligung: Wie beim Irakkrieg, an dem Deutschland offiziell nicht beteiligt war, droht auch bei einem Angriff auf Syrien eine deutsche Unterstützung des Krieges. Bundesregierung und Parlament müssen einer deutschen Beteiligung den Riegel vorschieben. Der Angriff von außen ist, auch wenn er „begrenzt“ auf zunächst 60 Tage geplant ist, eine weitere Eskalationsstufe in diesem schrecklichen Krieg. Die Folgen sind nicht kalkulierbar. Der Krieg droht die Nachbarstaaten in einen Strudel der Gewalt zu ziehen. In einer Eskalation des Bürgerkriegs geht es auch um die Existenz von Schiiten, Alawiten, Christen und den laizistischen Gruppierungen. Hilfswerke warnen vor noch mehr Leid, das durch einen Militärschlag der syrischen Zivilbevölkerung zugefügt würde. Wir fordern die Bundesregierung auf, ähnlich wie die österreichische Regierung, den Luftraum für Militärflugzeuge mit dem Ziel Syrien zu sperren. Wir fordern die Bundesregierung auf, sich nicht länger an den geheimdienstlichen Vorbereitungen für den Angriff zu beteiligen.

Waffenembargo: Wir fordern die Bundesregierung auf, sorgfältig darauf zu achten, dass keine Waffen in das Konfliktgebiet Naher und Mittlerer Osten exportiert werden. Nachdem USA, Großbritannien und Frankreich Waffenlieferungen an die Rebellen zulassen, muss die Bundesregierung sich verstärkt dafür einsetzen, dass diese Position in der EU keine weitere Unterstützung erhält.

Waffenstillstand: Ziel der deutschen Politik muss die Wiederherstellung des inneren Friedens in Syrien sein. Die einzige Möglichkeit dazu ist ein Waffenstillstand über Verhandlungen der Kriegsparteien. Wenn sich der Westen einschließlich der Bundesregierung aber eindeutig auf die Seite der Opposition stellt, vergibt er sich die Chance zu einer Beilegung dieses zurzeit blutigsten Konflikts beizutragen. Jede einseitige Schuldzuweisung nutzt der Propaganda und heizt den Bürgerkrieg an. Mögliche Kriegsverbrechen aller Seiten müssen aufgeklärt werden. Waffenstillstand und Übergangsregierung müssen die Themen der bislang immer wieder verschobenen Genfer Friedenskonferenz sein. Um iranische Zugeständnisse zu erhalten, sollte die Bundesregierung in den EU-3 Gesprächen Iran und USA zu einer Annäherung in der Nuklearfrage bewegen.

Vertrauensbildende Politik auf UN-Ebene: Wichtige Initiativen sind Unterstützung der Vermittlungsmission von Brahimi, und auf den gesamten Mittleren Osten hin gesehen: die UN-Konferenz für einen atomwaffenfreien Nahen und Mittleren Osten endlich durchzuführen und die Umsetzung der Resolution 242 des UN-Sicherheitsrates von 1967, die von Israel die Rückgabe der 1967 eroberten Gebiete (Golan, Gaza, Westjordanland) fordert.

Nothilfe: Die Bundesregierung muss die humanitäre Hilfe erhöhen. Sowohl für die Flüchtlingslager und die dort vom UNHCR registrierten 1,7 Millionen Flüchtlinge außerhalb Syriens als auch in den Städten und Gemeinden Syriens gibt es einen erhöhten Bedarf. (Die Bundesregierung hatte bislang 160 Millionen Euro zur Verfügung gestellt und weitere 20 Millionen Euro angekündigt.)

Aufnahme von Flüchtlingen: Insbesondere Flüchtlinge, die Familienangehörige in Deutschland haben, müssen eine vorübergehende Bleibe in Deutschland finden können. Wir fordern die Bundesländer auf, von der Möglichkeit eigener Regelungen großzügig Gebrauch zu machen. Das bisherige Kontingent von 5.000 Flüchtlingen muss deutlich erweitert werden.

Was wir selber tun können

  • Zeichen der Solidarität setzen durch Mahnwachen, Demonstrationen, Gebet und Fasten - Petitionen unterzeichnen für eine diplomatische und politische Lösung des Syrienkonflikts (z.B. www.peaceinsyria.de und die Petition „Zivile Lösungen für die Konflikte in Syrien! Kein Militäreinsatz!“ auf change.org).
  • Lokale Zonen der Gewaltfreiheit um Krankenhäuser, Schulen, kulturelle und religiöse Zentren und ähnliche Orte mit Hilfe der Caritas/Diakonie, des Internationalen Roten Kreuzes/ Roten Halbmonds oder der UNICEF unterstützen.
  • Lokale Selbsthilfe-Komitees in Gegenden, in denen der Rote Halbmond keine Hilfe leistet, unterstützen.
  • Kontakte zu hier lebenden syrischen Familien pflegen und die ankommenden Flüchtlinge in ihrem Alltag begleiten. Besonders schutzbedürftige Flüchtlinge ohne Verwandte in Deutschland willkommen heißen und bei ihren ersten Schritten unterstützen, z.B. in Zusammenarbeit mit der „save me“-Kampagne oder der Caritas.
  • An die Kirchenleitungen und Politiker/innen in Deutschland appellieren, sich für ein Ende des Krieges einzusetzen.

pax christi-Präsidium, 10. September 2013

 

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